Apropos Angst: Schatten einer Beichte
 
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Apropos Angst: Schatten einer Beichte

Kolumne von Karin Reddemann

 

Gute Frage, böse Frage: Was verfolgt dich in der Nacht?

 

Ich würde flüsternd antworten, damit niemand, nichts mich hören könnte in der Dunkelheit. Sehen, jagen, packen, schreien lassen könnte.

 

Vielleicht würde ich von meiner ersten Beichte erzählen. Sie hat eine Vorgeschichte und einen Schatten. Dieser Schatten hängt seitdem an mir wie eine Klette. Seit Jahrzehnten schleppe ich ihn mit mir herum, er spricht, bockt, reizt, schlägt und treibt mich. Seine Asche wird wohl bei meiner in der Urne landen. Sein Name ist Horror.

 

Ich bringe ihn nur gequält über die Lippen. Eigentlich lächerlich, dass er nicht erwachsen geworden ist. Ein Flüstern ist er geblieben. Grundsätzlich wäre es doch einfach, ihn zu ignorieren. Überhaupt, große Güte, eine prinzipiell unspektakuläre Beichte, was soll da Gravierendes passiert sein? Stimmt doch.

Nein. Stimmt eben ganz und gar nicht.

 

Als ich erfuhr, dass alle irgendwann mal beichten müssen, weil das stets so war und ist, hätte ich gern gesagt, dass das nur über meine Leiche gehen würde. Das traute ich mich nicht, ich war neun und durfte nicht über Leben und Tod bestimmen. Ich blieb stumm. Ich lebte in Furcht. Ich stellte mir Grauenvolles vor.

 

Frau Brick spulte uns irgendwann in dieser Zeit einen kurzen Film über die Verteidigung der Stadtmauer im Mittelalter vor. Bröckchenweise steht die heute noch. Im Film war sie hoch, und von dort oben wurden Kübel mit kochendem Teer auf die Angreifer gekippt. Wer es trotzdem schaffte, die Mauer zu erklettern, wurde hinuntergeworfen.

Ich machte mir damals natürlich keine Gedanken darüber, wie vernünftig oder eben nicht es ist, so was in der Grundschule zu zeigen. Ich war weniger erschrocken denn fasziniert. Was ich niemals zugegeben hätte, mir war schon klar, dass es normaler war, es einfach nur schlimm zu finden.

 

Den Film habe ich in mir gespeichert. Wie so vieles, das folgen sollte und in meinem Kopf Platz für tiefste Dämmerung beanspruchte. Ausgesucht habe ich mir das nicht, die Lust an der Angst experimentierte ungefragt mit mir.

 

Meine erste Beichte stand bevor, und Markus Bross aus der Parallelklasse drückte mir beim Schulgottesdienst wortlos Bonbons in die Hand. Ich wertete das als Liebeserklärung. Ich errötete zutiefst, wickelte eins aus, steckte es mir heimlich in den Mund und versteckte es unter meiner Zunge. Ich fühlte mich dabei gut. Und ich schämte mich dafür, dass ich mich gut fühlte, weil wir in der Kirche waren. Ich war mir sicher, das würde entsetzliche Folgen haben. Ich dachte an die Beichte.

Es waren Zitronenbonbons in rotem Glanzpapier. Die gibt es schon seit vierzig Jahren nicht mehr.

Der im schwarzen Schrank

Mein Großvater sagte, zu beichten sei ein Klacks, man müsse nur irgendwas erzählen, dann wäre alles in Ordnung. Ich sah das anders, nickte aber. Ich war die Stadtmauer. Die Beichte griff an. Ich hatte keinen Teer. Wie hätte ich das in Worte fassen können?

 

Tatsächlich kann ich nicht erklären, was es war, aber dass es schrecklich war, weiß ich. Ich war mir sicher, dass nicht der nette junge Kaplan Dommbusch in dem schwarzen Schrank stecken würde. Ich wäre auf dem Weg, und die Lichter würden ausgehen. Es wäre ganz still in der Kirche, und dann käme Orgelmusik aus der Ecke und jemand würde Kerzen anzünden. Jemand. Irgendwas. Nicht Küster Kortmann.

 

Mir fielen keine Sünden ein, das hat mir den Schlaf geraubt, der bei Kindern selig sein sollte. Schließlich entschloss ich mich, welche zu erfinden, kleine, harmlose zwar, aber eben keine echten.

 

Meine Angst vor dem Fremden im Schrank steigerte sich, weil ich mir vorstellte, er würde nach mir greifen und mich schütteln und brüllen, was sonst niemand darf: »Du lügst.«

 

Meine Mutter verstand mich nicht. Am Tag meiner ersten Beichte sagte sie: »Du bist ganz zappelig. Hast du was?« Sie hätte das merken müssen, ich war entsetzt, es schien ihr egal zu sein, dass ich litt. Ich hätte ihr gern gesagt, dass ich dort nicht hingehen würde, weil ich es dann niemals wieder vergessen könnte, und sie hätte gefragt, was vergessen? Und ich hätte gesagt, dass ich das nicht wisse, aber es wäre furchtbar. Und ich hätte geheult.

Kriechen und verwesen

Nur wenige Monate später brach ich meiner Schwester den Arm. Es war ein Unfall, wir spielten auf dem Hohlweg hinter dem Hof Pferd und Wagen. Ich saß auf dem Fahrrad, die Beine hoch über dem Lenkrad liegend, sie war das Pferd an der Wäschekordel, das den Wagen zog. Das Pferd stolperte im Lauf und fiel, der Wagen fuhr ungebremst über ihren Arm. So war das. Unsere Mutter schenkte ihr zum Trost eine wunderschöne Plüschkatze, die mich neidisch machte. Eigentlich hätte sie mir auf den Schreck hin auch etwas kaufen müssen. Dachte ich. Schuld an der Sache gab ich mir nicht wirklich. Aber immerhin, sie wäre vermutlich bei oberflächlicher Betrachtung als vernünftige Sünde durchgegangen, die mich weiterhin nicht ernsthaft belastet hätte, weil es keine war, die einen ins Fegefeuer katapultiert oder direkt hinter die Mauer, wo sie alle kriechen und verwesen und die Zähne fletschen.

 

Zu spät.

 

Es ärgerte mich, dass dieses Missgeschick mit meiner Schwester nicht schon viel früher stattgefunden hatte. Ich hätte es bei meiner ersten Beichte loswerden können, das wäre beeindruckender gewesen für den Mann im Schrank als der Kinderkram, den ich ihm widerwillig anvertraut hatte.

 

Tatsächlich überstand ich alles, ohne sterben zu müssen, aber ich fühlte mich schlecht, weil ich solch nutzloses Zeug erzählt und den Mann im Schrank hatte glauben lassen, mir sei das alles ernst. Er hatte eine freundliche Stimme, er klang wie Kaplan Dommbusch, aber ich war mir sicher, mich zu irren. Ich dachte an die Orgelmusik, und ich vermisste sie, weil sie es wahr hätte werden lassen. Was, das wusste ich nicht. Vielleicht weiß ich es jetzt. Vermutlich.

 

Ich habe mir längst schon angewöhnt, die Kerzen selbst anzuzünden und ausgehen zu lassen, wenn ich es will. Die Umherirrenden ruhen sich auf meinen Kirchenbänken aus. Sie dürfen beten, bevor sie fluchen.

 

Nach meiner ersten Beichte tat mir der Bauch weh. Meine Mutter fragte, ob es nicht der Magen sei, ich war irritiert, für mich war das gleich. Sie hatte einen Termin bei Doktor Grutthoff und nahm mich einfach mit. Er klopfte und drückte an mir, schüttelte den Kopf und fragte mich, ob ich zu viel Schokolade gegessen hätte. Er lachte. Ich mochte ihn nicht. Er starb ein halbes Jahr später an einem Herzinfarkt, meine Mutter fand das traurig. Ich nicht.

 

Mein Großvater behauptete, die Würmer würden die Toten fressen, und ich fragte ihn, ob sie das auch mit Doktor Gruthoff machen würden. Ich stellte mir das vor und sah ein Bild. Mehr nicht.

 

Ich zeichnete gern. Meine Mutter meinte, ich solle mehr hübsche Farben nehmen, das tat ich, weil es ihr wichtig war. Das Bunte gefiel mir nicht. Ich übermalte es heimlich.

Das hätte ich beichten können.

 

Doktor Grutthoff griff in das bauchige Glas auf seinem Schreibtisch und schenkte mir Bonbons. Das Glas stand neben einem Schädel, der ein Aschenbecher war. Grutthoff rauchte in der Praxis, das war in Ordnung für mich, er war erwachsen wie mein Vater.

 

Es waren Erdbeerbonbons in geblümtem Papier, die mir nicht schmeckten. Ich warf sie in den Gulli, als meine Mutter wegsah. Schmerzen hatte ich nicht mehr. Zuhause setzte ich mich an meinen Aufsatz für Frau Brick. Ich schrieb über einen Mann im schwarzen Schrank. Meine erste Gruselgeschichte. Sie wirft immer noch Schatten in meinem Kopf. Anders geht es gar nicht. Denke ich.

 

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Erstellt: 08.08.2023, zuletzt aktualisiert: 15.04.2024 09:15, 22110