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Saramees Augen

(erschienen in der Anthologie “In den Gassen von Saramee”)
Autor: Dirk Wonhöfer

Moe Darko schloss seine Haustür, zog den Mantel enger um seine Taille, denn die Abende wurden kälter, und stapfte hinaus in die verregneten Straßen Saramees. Laternen spiegelten sich in schlammigen Pfützen, dunkle Wolkenberge türmten sich über Häusern, Hütten und Anwesen, und das stete, unermüdliche Tröpfeln des Regens dämpfte die Geräuschkulisse, verschluckte Hufgetrampel und Kutscherschreie. Moe spürte, dass diese Nacht für ihn geschaffen war. Er legte einen Schritt zu.
Gerade hatte er sein Haus und seine Straße hinter sich gelassen, als ein unachtsamer Passant ihm direkt vor die Füße lief. Sie rempelten sich gegenseitig an, blieben stehen und betrachteten einander. Der Fremde war wie Moe in einen Mantel gehüllt; unter der Kapuze traten lediglich die Augen hervor.
„Entschuldigung“, murmelte Moe und wollte schon weiter, als eine Hand ihn am Arm packte. Er zuckte und musterte den anderen fragend.
„So spät noch unterwegs?“, fragte der Fremde wie beiläufig.
„Ja …“, sagte Moe langsam. „Erledigungen machen.“
„Geschäftlicher Art?“
Moe wusste zwar nicht, was den Fremden das anging, aber er schüttelte den Kopf. „Persönliche … Interessen.“
„Erzähl mir davon“, bat der Fremde, und Moe meinte, im Dunkel der Kapuze ein Lächeln aufblitzen zu sehen.
„Ich …“, begann Moe unsicher. Was sollte er dem Fremden sagen? Warum wollte der überhaupt wissen, was Moe hier draußen tat? Schließlich sahen sie sich zum ersten Mal … obwohl die Augen des Fremden mit einer Intensität brannten, die etwas in Moes Erinnerung wach rief und nach Anhaltspunkten in seinem Verstand suchte.
„Ich habe viel gehört und viel gesehen“, sagte Moes Gegenüber freundlich. „Sehr viel. Egal, was es ist, nach dem du strebst oder das du tun willst – es wird mich nicht erschrecken.“
Moe betrachtete den Fremden mit einiger Skepsis. Unter normalen Umständen hätte er sich längst aus dem Staub gemacht, hätte das seltsame Gespräch keine fünf Sekunden gedauert – wer sich mit derlei Gestalten einließ, fand sich oft mit aufgeschlitzter Kehle in der Gosse wieder. Das wusste Moe nur allzu gut. Er hatte keine Lust, eines von Saramees Opfern zu werden, ein weiterer kalter Leichnam, der von den Straßenkötern weggeschleppt und zerfetzt wurde.
Aber dennoch … dieser Fremde, wenn Moe ihn ansah, erkannte er etwas in dessen Blick, das ihn an sich selbst erinnerte. Einen dunklen, ungebändigten, wilden Charakterzug. Eine Art Seelenverwandtschaft.
Jedenfalls erschien es ihm plötzlich nicht weiter komisch, den Fremden zu fragen, ob er ihn begleiten wolle. Was konnte schon geschehen? Schließlich tat er nichts Verbotenes! Und möglicherweise würde der andere ihn verstehen, wenn er an Moes Streifzug teilhaben durfte. Würde sich nicht angewidert abwenden, sondern sich für das interessieren, was Moe ihm zeigte …
„Folge mir“, sagte er schließlich und marschierte durch den Regen davon. Der Fremde folgte ihm auf dem Fuße. Keine Fragen, keine seltsamen Blicke. Er war einfach nur da. Moe kannte nicht mal seinen Namen, und es verlangte ihn auch gar nicht danach. Später, falls sich herausstellte, dass sie gemeinsame Interessen teilten, blieb noch genügend Zeit für solche Nichtigkeiten. Jetzt aber eilten sie durch die Nacht, durch den Regen, und mit jedem Schritt stieg ein Gefühl der Vorfreude in Moe auf.
Bald gelangten sie in die ärmeren Viertel Saramees, und Moe begann, sein Verhalten zu ändern. Er duckte sich in den Schatten, hinter Müllhaufen und Unrat, verschmolz mit der Dunkelheit. Wenn er die Straße überqueren musste, wartete er, bis niemand da war, der ihn beobachten konnte, und wenn Passanten an ihnen vorüber gingen, hielt er so lange still, bis sie außer Sichtweite waren.
Der Fremde kopierte Moe perfekt: Niemandem fiel die Anwesenheit der beiden auf, niemand drehte sich nach ihnen um, niemand nahm sie wahr.
„Wir werden zu Schemen der Nacht“, flüsterte Moe, und sein Blick streifte für einen Augenblick die schimmernden, hellgrünen Pupillen des anderen. Hatte er ihn schon einmal gesehen? „Wir sind jetzt keine bloßen Bürger mehr. Wir sind nun Augen, Ohren und Nase Saramees. Wir betrachten und saugen in uns auf, was uns die Stadt zeigt, riechen den Gestank ihrer düstersten Ausgeburten.“
„Klingt ja lecker“, sagte der Fremde nur. „Was sieht die Stadt denn so?“
„Geduld“, raunte Moe. „Manchmal hat man Pech, und Saramees Augen sind geschlossen. Doch oft, sogar sehr oft, gibt es auf einem Streifzug mehr als nur ein Schauspiel, das sich zu beobachten lohnt.“
Die Nacht lotste sie weiter, von Haus zu Haus, Gasse zu Gasse, durch tiefsten Dreck und dunkelste Viertel.
„Warte. Ich höre etwas.“ Moe hielt inne, legte den Kopf schräg und lauschte.
„Saramee spricht zu dir?“, fragte der Fremde.
„Ja“, erwiderte Moe. „Und wir werden sehen, was sie uns zeigen will.“
Moe folgte seinem Gehör, bahnte sich seinen Weg durch eine verlassene, windschiefe Hütte, deren Mauerwerk seit Jahren zerfiel, und duckte sich hinter einem Haufen alter Säcke, aus denen faulige Speisereste quollen. Der Fremde kauerte sich neben ihn. Nur wenige Meter entfernt erklang erneut das Geräusch, das Moe hergelockt hatte: Ein Winseln, ein Jammern. Dann ein Heulen, zornig, aber hoffnungslos. Gebrochene menschliche Klagelaute.
„Es ist eine Frau“, sagte der Fremde und setzte völlig nüchtern hinzu: „Jemand vergewaltigt sie.“
„Ja“, flüsterte Moe. Er hätte zu gern gesehen, wie der Fremde sich nun gebärdete, konnte aber den Blick nicht von der Szene abwenden, die sich ihnen präsentierte.
„Wollen wir nichts unternehmen?“
Moe hielt die Luft an. Jetzt würde sich zeigen, in wieweit sein Gefährte Moes Leidenschaft teilte. Es gab nicht viele Möglichkeiten, sich in einer solchen Situation zu verhalten: Entweder man half – oder man wandte sich ab und überließ die Frau ihrem Schicksal. Oder … man wartete, kauernd, beobachtend. Sah mit den Augen Saramees, lauschte mit dessen Ohren.
„Nein“, antwortete Moe schließlich. „Wir unternehmen gar nichts. Wir sind nur Beobachter. Die Stadt bietet uns ein Schauspiel, und wir genießen es, ohne einzugreifen.“
Der Fremde antwortete nicht, bewegte sich aber auch nicht vom Fleck. Moe sah zu, wie der Vergewaltiger ein Messer zückte, um sein Werk zu vollenden. Oh, wie sehr Moe sich in diesem Moment wünschte, selbst dort zu stehen! Den kalten Stahl in seiner eigenen Hand zu halten. Es wäre ihm sogar recht gewesen, wenn es sein eigenes Blut wäre, das in der Gosse verschüttet wurde. Nur wollte er noch näher heran, noch mehr sehen, noch mehr, noch mehr! Der Vergewaltiger schlitzte seinem Opfer die Kehle auf, und Moe fühlte sich lebendiger als je zuvor. Blut spritzte, floss die Rinnen des Kopfsteinpflasters entlang.
Moe labte sich an dem Anblick wie die zahllosen Nächte davor, und wieder einmal kämpften zwei Gefühle in seinem Innern um die Vorherrschaft: Das eine war Freude und Glück über das eben Gesehene. Das andere war ein dumpfer, hohler Schmerz – über die Unfähigkeit, nicht selbst das Messer zu nehmen, selbst zu vollführen, wonach er so begierig lechzte. Er war auf ewig der Gnade anderer ausgesetzt, die für ihn den letzten Schritt, den letzten Schnitt zum Tod wagten. Seine Verdammnis lag in dem Fluch, immer nur der stille Beobachter zu sein.
Der Mantel der Nacht und des Regens verhüllten das Antlitz des Vergewaltigers, und als er in die andere Richtung verschwand, gab es nach wenigen Sekunden keine Spur mehr von ihm. Lediglich die halbnackte Tote, die mit seltsam angewinkelten Gliedmaßen in der Gosse lag, während ihr Blut vom Regen fort gewaschen wurde.
„Saramee hat tausend Gesichter“, sagte Moe langsam. „Es hat helle, und es hat dunkle. Tragödien, Schicksale, Trauer, Leid. Ich koste nur von der Dunkelheit. Ob es ein Mann ist, der von einer Kutsche überrollt wird, ein Dieb, der von einem andern Dieb betrogen wird und sich rächt, ein Straßenkampf – oder eben ein Wesen, dem das zustößt, was gerade hier geschah. Es ist ein Schauspiel, und ich bin nichts als ein Zuschauer. Ich genieße die Vorstellung, aber applaudiere nur im Geiste.“
Und gleichzeitig hasse ich mich selbst für meine Feigheit, setzte er in Gedanken hinzu. Gedanken, die auszusprechen er ebenso wenig den Mut aufbrachte, wie jemanden zu töten.
Der Fremde sah ihn mit diesen großen, grünen Augen an, die das einzige waren, das ihn von einem bloßen Schatten unterschied. „Wir werden noch mehr sehen heute Nacht?“
Moe konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Wenn … wenn du das willst. Dann ja. Du musst mir nur folgen. Ich kenne mich bestens aus in Saramee, ich weiß, an welchen Orten die Stadt ihre Stücke am liebsten darbietet.“
„Bring mich dorthin, wo es zu … Unfällen kommt.“
„Unfälle? Es gibt verschiedenste Arten von-„
„Wo Menschen überfahren werden“, präzisierte der Andere.
„So etwas ist recht schlecht vorherzusehen“, gab Moe zu Bedenken. „Versteh mich nicht falsch, es gibt Orte, an denen man sich verstecken und abwarten kann, aber … es geschieht trotzdem nur selten.“
„Bring mich dorthin“, wiederholte der Fremde.
Begierig, seinem Begleiter etwas zu bieten, eilte Moe voran. Sie waren fast eine halbe Stunde unterwegs, bis sie an eine Brücke gelangten, die zwischen hoch aufragenden Häuserschluchten über einen kleinen Fluss verlief. Ab und zu holperte eine Kutsche um die nächste Kurve, eine Peitsche knallte, Agrials schnaubten, und im nächsten Moment war das Gefährt an ihnen vorbei.
„Kein Kutscher nimmt hier nachts Rücksicht auf Passanten, die nicht wissen, dass diese Brücke hauptsächlich für Fahrzeuge bestimmt ist. Wir können uns auf die Lauer legen, aber ich harre hier manchmal fünf oder gar zehn Nächte aus, bis meine Geduld belohnt wird.“
„Es muss anstrengend sein“, sagte der Fremde.
Moe überlegte einen Augenblick. „Nein, anstrengend ist das falsche-„
„Anstrengend, so sehr nach Tod und Verderben zu gieren“, fiel ihm sein Gegenüber ins Wort. „Anstrengend, derart krank und geistig arm zu sein, sich auf die Stufe von etwas Totem, eines Gegenstands, herabzusetzen.“
Moe öffnete den Mund, sagte aber nichts. Nur das Klappern einer Kutsche war in der Ferne zu hören.
„Du erinnerst dich vermutlich nicht an mich“, sagte der Fremde. Seine Augen blitzten unter der Kapuze. „Aber du hast auch mich einst beobachtet. Ich wollte allerdings nicht, dass mich jemand dabei sieht, wie ich einen vertragsbrüchigen Geschäftspartner umbringe. Zeugen machen sich nicht gut. Ich wollte dich schon länger töten, allerdings auf angemessene Art und Weise.“
Noch immer brachte Moe kein Wort heraus. Er tapste langsam nach hinten, und gleichzeitig schien die ungezügelte Furcht, die er verspürte, ihn aus seinem eigenen Körper zu vertreiben. Plötzlich sah er sich selbst, auf der nächtlichen Brücke, sah sich aus der Perspektive eines Beobachters, und auch wenn er wusste, dass es nun sein eigenes Leben war, das genommen werden sollte: Ein Teil von ihm, irgendwo weit hinten in seinem verdrehten Verstand, gierte danach, zu sehen, wie es passierte.
„Ich habe etwas für dich, das dir sicher gefallen wird“, sagte der Fremde. „Wäre es nicht dein größter Wunsch, selbst einmal ein Schauspiel aufzuführen, den Augen Saramees dein ganz eigenes, letztes Stück darzubieten?“
Mit diesen Worten gab er Moe einen Tritt in den Brustkorb, und Moe taumelte nach hinten, fiel, überschlug sich – und wurde von den Agrials einer Kutsche niedergetrampelt, die in diesem Moment um die Ecke bog und über die nächtliche Brücke peitschte.
Das letzte, was er sah oder sich vielleicht auch nur einbildete, war ein Paar funkelnder Augen, die aus den finstersten Schatten Saramees heraus den Mord verfolgten.

- ENDE -

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