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Halsabschneider

Autor: Torsten Scheib

Selbst bei helllichtem Tageslicht mieden anständige Bürger diese Ecke der Stadt. Wie das schwere Miasma selbst, eine Mischung aus Schweiß, Fäkalien, Fusel und Verzweiflung, hing die Gefahr über diesem Ort wie die grauen Wolken eines trüben Herbsttages. Wer sich hierher verirrte, der hatte entweder nichts mehr oder würde bald alles verlieren; sein Leben eingeschlossen. Selbst ein Großteil der Wachen hielt bewusst Abstand. Die wenigen, die es dennoch als ihre Pflicht ansahen, hier für Recht und Ordnung zu sorgen, lernten schon sehr bald, wie zwecklos ihr Unterfangen war. Den Männern und Frauen, die sich hier in den Gassen tummelten, waren sie absolut gleichgültig. Versuchte es einer dennoch, einen Streit zu schlichten oder einem Betrug auf die Spur zu kommen, so begriff er rasch, warum. Niemand hier besaß auch nur ein Fünkchen Respekt vor der Obrigkeit. Selbst wenn ihnen die funkelnde Klinge eines Säbels oder die nichts Gutes verheißende Spitze einer Lanze entgegengestreckt wurde, hatten sie lediglich amüsierte Blicke und höhnisches Gelächter übrig. Von ihren eigenen, meist besseren Wurf- oder Stichwaffen, ganz zu schweigen. Nein, hier besaß die Justiz keinerlei Rechte; war jeder gültige Erlass schlichtweg außer Kraft gesetzt. Das einzige Gesetz, das hier vorherrschte, war jenes der Gosse. Zumindest in den Tagesstunden.
Mit der Dämmerung änderte sich das.
Die Nacht war die Domäne der Halsabschneider und Irren; zwielichtige Gestalten, vor denen sich selbst das Gesindel des Tages fürchtete. Männer wie auch Frauen, die entweder töteten um zu überleben oder den Akt des Tötens schlichtweg als eine Art Wettkampf betrachteten. Wer sich während der dunklen Tageshälfte hier aufhielt, dem war das Verderben sicher – ein höchst unschönes und qualvolles Ableben inbegriffen …

~~~

„Ist das eine Ratte?“ Ekel spiegelte sich in Kadeers weit aufgerissenen Augen. Lautstark schluckte er.
„Ist es“, bestätigte Thyseem zwischen zwei Schlücken. Tropfen des minderwertigen Fusels verirrten sich in seinen struppigen Kinnbart, der den gleichen Grauton besaß wie Thyseems Schopf. Beiläufig wischte er sich die hochprozentigen Perlen aus seiner Gesichtsbehaarung und befestigte den Trinkbeutel aus Leder wieder an seinem rissigen Gürtel. „Und das Ding in ihren Händen auch.“
Mit gerunzelter Stirn glotzte Kadeer über seine Schulter.
„Das ist Lexa.“ Mit seinem Kinn wies Thyseem in Richtung der Gestalt. „Die ist mit Vorsicht zu genießen. Geh ihr besser aus dem Weg.“
Erneut lugte Kadeer aus ihrem Versteck hervor – dem schmalen Durchgang zwischen einer ranzigen Spelunke und einem noch ranzigeren Bordell. In keinem von beiden wurden um diese Uhrzeit Getränke bestellt oder Dirnen betatscht.
„Was soll an dieser Vettel denn so furchterregend sein?“
Thyseem trat neben ihn. „Warte es nur ab.“ Seine ausgestreckte Hand zeigte nach vorn; dorthin, wo Lexa gerade inne gehalten hatte und ihre Beute ausgiebig musterte. Das Licht einer einsamen Laterne fiel auf sie. Kadeer erkannte lange, fettige Haarsträhnen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun grau oder weiß waren. Die wenigen vorhandenen Zähne waren pechschwarz, ebenso auch ihre unnormal langen, spitz zulaufenden Fingernägel. Anstelle von Schuhwerk präsentierte sie blanke Füße, die von einer dicken Dreckschicht bedeckt waren. Und aus welchem Material waren eigentlich ihre Kleidungsstücke; die Hose und dieses wamsähnliche Ding?
„Glaub’ mir – das willst du gar nicht wissen“, entgegnete Thyseem.
„Wieso?“
Thyseem plusterte die Backen auf; atmete tief aus. Sein alkoholgeschwängerter Atem traf Kadeer mit voller Wucht.
„Nun ja“, fuhr Thyseem fort und begann, seinen ungepflegten Bart zu kratzen, „hier draußen gibt es nicht nur Gesindel. Dieser Ort bringt auch noch völlig andere Gestalten hervor. Du weißt schon.“ Er tippte sich zweimal gegen die Stirn. „Und Lexa – die ist eine von der übelsten Sorte.“
„Inwiefern?“ verlangte Kadeer zu wissen.
„Bis vor ein paar Jahren waren sie zu dritt gewesen. Lexa und ihre beiden Schwestern, Wiika und Grynd. Bis heute weiß keiner so genau, wer sie eigentlich sind und woher sie kamen. Manche sagen, dass sie irgendwann von einer der südlichen Inseln verschleppt worden und schließlich in Saramee gelandet waren. Andere wiederum behaupten, sie wären vom Hochland hierher gekommen, nachdem ihnen die Nahrung ausgegangen war. Harter Winter und so.“
„Und was ist mit ihren Angehörigen passiert?“
„Der harte und lange Winter.“
„Wie meinst du dass?“
Nickend wies Thyseem auf die Alte.
Mit offenem Mund verfolgte Kadeer, wie die Alte der Ratte den Hals umdrehte. Ihre sehnigen Finger hatten keinerlei Probleme mit dem sich windenden Körper. Ein finales Quietschen – und das Tier hatte seinen letzten Atemzug getan. So mühelos. Als würde man einen frischen Brotlaib teilen. Kadeers Magen verkrampfte sich, als er dabei zusah, wie Lexas scharfe Nägel den Bauch aufschlitzten. In der relativen Stille hörte es sich an wie Stoff, der entzwei gerissen wird.
Hinter ihm genehmigte sich Thyseem einen weiteren Schluck. Er wollte das Schauspiel nicht weiter verfolgen. Anders dagegen sein junger Begleiter, der seinen Blick einfach nicht abwenden konnte – auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte. Als Lexas faules und geschwärztes Gebiss in das warme Fleisch des toten Nagers biss, drang ein leises Aufstöhnen über seine Lippen. Stechender Gallensaft kletterte seine Kehle hinauf, während die Alte begierig zähe Fleischbrocken in ihrem Schlund verschwinden ließ. Dunkles Blut verschmierte die rissigen Mundwinkel, lief ihr am Kinn entlang.
Endlich gelang es Kadeer, sich umzudrehen. Würgend wirbelte er herum – und hätte um ein Haar Thyseem umgestoßen.
„Genau dass meinte ich mit hartem Winter“, erklärte der alte Halsabschneider. Sein Blick driftete ins Nirgendwo, als er fortfuhr: „Monatelange Isolation, auf engstem Raume mit deiner Familie. Klirrende Kälte. Keinerlei Verbindung zu Freunden und Nachbarn; der wärmste Platz vor dem heimischen Ofen muss sich erst mit Tritten und Schlägen erkämpft werden. Man fleht die Götter an, dass endlich das Tauwetter einsetzen möge – und wird nicht erhört.“
Gebannt hing Kadeer an den Lippen des anderen. Woher weiß er das alles? fragte er sich. Hat er Gleiches selbst schon durchleben müssen?
Wieder dieses Kratzen, als der alte Halsabschneider seinen Bart bearbeitete. „Die Trostlosigkeit der kurzen Tage und viel zu langen Nächte ist wie ein Wurm, der sich lautlos Zugang zu deinen Gedanken verschafft; dich mit Wahnsinn vergiftet und deine Nächsten als Feinde sehen lässt. Besonders, wenn die Vorräte allmählich zur Neige gehen. Wenn der letzte Sack Mehl aufgerissen und die letzten Stücke Pökelfleisch verteilt werden. Wenn der Magen knurrt und deine Gelenke ganz taub sind und dein Verstand wie betäubt … dann ist alles möglich.“
Sich mit einer Hand an der Schulter seines jungen Begleiters abstützend, lugte Thyseem auf die Gasse hinaus. Rasch zog er sich wieder zurück. Nahm zwei tiefe Schlücke, bevor er sich seufzend und mit geschlossenen Augen gegen die Hauswand lehnte.
„Wovon sprichst du?“, verlangte Kadeer zu wissen. Ungeduld und Neugier lagen in seinen geflüsterten Worten. „Was genau ist dann möglich?“
Der junge Mann fuhr zusammen, nachdem Thyseem wieder die Augen aufgeschlagen hatte. In dessen Pupillen lag ein Ausdruck; ein Unheil verkündendes Funkeln, das Kadeer ganz und gar nicht gefiel.
„Es heißt, dass sich die drei Schwestern, getrieben von ihrem Elend und dem quälenden Hunger, in ihrer Verzweiflung über das einzig Essbare hergemacht haben.“
Kadeer schluckte. Eine unsichtbare Klingenspitze liebkoste seinen Nacken. „Du meinst doch nicht etwa …“
Thyseem nickte. „Doch. Genau dass meine ich. Und wenn man sich die alte Lexa eingehender betrachtet, kommt es einem doch gar nicht mal so abwegig vor, hab ich Recht?“
Blinzelnd starrte Kadeer zu Boden. Was ihm sein Begleiter gerade eben vorgetragen hatte, war so … so … Es überstieg seine schlimmsten Vorstellungen. In Gedanken sah er drei Mädchen, verrückt geworden ob der Einsamkeit und ihrer knurrenden Mägen, die sich wie Raubtiere auf ihre Eltern stürzten und …
„Aber es geht noch weiter“, meldete sich Thyssem wieder zu Wort. „Man sagt, dass die drei Mädchen danach am Geschmack von Menschenfleisch Gefallen gefunden haben. Unbemerkt hätten sie im Laufe der Zeit weitere Opfer gefunden; Nachbarsbauern, Kinder, ahnungslose Wanderer …“
Kadeer stellte sich drei junge Frauen vor, eine hübscher als die andere. Eng anliegende Gewänder, welche die sinnlich-verführerischen Formen ihrer weiblichen Rundungen nur noch verstärkten. Lange, pechschwarze Mähnen, umspielt vom kühlen Wind. Wie leicht es den Dreien wohl gefallen sein mag, Nachschub zu finden; Nachschub in Form von Alten, Kindern, jungen Männern – wie er selbst einer war …
„ … bis man ihnen eines Tages auf die Schliche gekommen war. Doch bevor man die Schwestern am nächsten Baum aufhängen und ihre Seelen gen Neungötter schicken konnte, war ihnen bereits die Flucht gelungen. Und schließlich tauchten sie in Saramee unter – wo es genügend Nachschub gibt.“ Erneut legte Thyseem seine Lippen um den Trinkbeutel – nur um enttäuscht feststellen zu müssen, dass er leer war.
„Hast du dich nicht auch schon mal gefragt, was mit all jenen passiert, die in ein gezücktes Schwert laufen? Deren Kehlen von scharfen Klingen zerteilt werden? Oder von einer unheilbaren Krankheit zerfressen? In den besseren Teilen der Stadt hat die Gilde dafür ihre Leichensammler, aber hier? Hier erledigten die Schweine und Fledderer das Werk. Oder Gestalten wie Lexa. Manchmal hilft sie aber auch selbst nach. Wenn der Drang nach Menschenfleisch unerträglich wird – oder ihr einfach der Sinn nach einem neuen Wams steht.“
Ein wissendes Lächeln tauchte im Gesicht des älteren Halsabschneiders auf. Kadeers Hinterkopf fing zu prickeln an. Er konnte das stetige Hämmern seines eigenen Herzschlags hören. Es klang wie weit entfernter Kanonendonner. Das Entsetzen legte sich wie Raureif über sein junges Antlitz.
„Aber was ist aus ihren Schwestern geworden?“ fand er kurz darauf seine Fassung wieder. Halbwegs zumindest. „Hat sie die etwa auch …“
„Das weiß keiner so genau“, gestand Thyseem mit hochgezogenen Schultern. „Meine Vermutung ist, das es die alte Lexa war, die sie hat verschwinden lassen. Womöglich waren sich die drei uneins gewesen, wer welchen Körperteil verspeisen mag. Oder sie hatte es einfach satt, ständig mit zwei Nebenbuhlerinnen durch die Gassen zu ziehen … Aber eines steht fest: mit der alten Lexa ist nicht zu spaßen. Die reißt einen bewanderten Schwertkämpfer den Arm aus der Schulter als wär’s ein dürrer Zweig; glaub’s mir.“
Kadeer musterte Thyseem zweifelnd. „Du machst dich über mich lustig.“
„Ganz gewiss nicht“, widersprach der Ältere. „Wenn du dieser garstigen alten Hexe begegnen solltest – vergiss sämtliche Vorsätze. Nimm die Beine in die Hände und lauf, so schnell du kannst!“
Kadeer stützte sich mit beiden Händen an der Bohlenwand des Gebäudes ab. Nur keinen Lärm machen … Sein ganzer Körper bebte. Langsam schlich er sich vor, hielt den Atem an und spähte auf die Gasse hinaus.
Von der alten Lexa war nichts mehr zu sehen. Fast schien es, als habe sie niemals existiert. Lediglich die zerfetzte Ratte auf den feucht schimmernden Pflastersteinen besagte das Gegenteil.
Um ein Haar hätte Kadeer laut aufgeschrieen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Erleichtert atmete er auf, als er Thyseems Stimme vernahm: „Lass dir eines gesagt sein, mein Junge – wenn du in diesem Teil der Stadt überleben willst, solltest du besser niemandem trauen. Der Schein trügt hier öfter, als man glauben möchte.“
Kadeers Stiefelsohlen gaben ein Knirschen von sich, als er sich umdrehte. „Ja“, sagte er. „Ich glaube, du hast recht.“
„Natürlich habe ich das!“ pflichtete ihm der alte Halsabschneider bei. „Und außerdem habe ich noch was – Durst! Mal sehen, ob mir Darrus, dieser nichtsnutzige Nörgler, etwas von seinen Vorräten abgeben kann. Und falls nicht, werde ich meinem Glück einfach auf die Sprünge helfen.“ Wie aus dem Nichts erschien ein tückisch aussehendes Messer in seiner Hand – und verschwand ebenso schnell wieder. „Kommst du mit?“
Zerknirscht sah Kadeer den Durchgang entlang. Er mochte Darrus nicht. Umgekehrt verhielt es sich genau so. Und das Gesindel, das um ihn herumschwirrte wie Schmeißfliegen über einem dampfenden Pferdeapfel ebenso wenig. Trunkenbolde, allesamt, die in ihren schiefen Hütten und Verschlägen dahinvegetierten wie streunende Hunde, während der Fusel ihr Hirn aufweichte. Nein, er würde hier bleiben und die Stellung halten. Außer vielleicht die alte Lexa taucht auf …
„Na schön“, entgegnete Thyseem, nachdem ihm Kadeer sein Vorhaben kundgetan hatte. Der Umhang des alten Halsabschneiders bauschte sich auf, als er im Dunkeln verschwand – und Kadeer zurückließ, in der Kälte und Einsamkeit der stillen Nacht.
Der junge Halbabschneider rieb sich beide Schultern, hüpfte mehrmals auf und ab. Feine Rauchwölkchen entstiegen seinem Mund. Er schaute hinauf zu den wenigen Sternen. Die Nacht war doch kälter wie eigentlich angenommen. Prustend suchte er das ganz in seiner Nähe vor sich dahinvegetierende Fass auf, kniff die Nase zusammen ob des Gestanks aus dessen Innerem und setzte sich auf den Rand. Hätte ich dem alten Zausel nur gesagt, dass er mir etwas mitbringen möge, grämte er sich. Nicht, das er so begierig danach war wie Thyseem, der, wenn er nicht acht gab, schneller zu einem zweiten Darrus werden würde, als ihm genehm war. Und dann erst diese Mär von der alten Lexa! Hatte Thyseem allen Ernstes geglaubt, ihn mit solch einer Lagerfeuergeschichte Angst einjagen zu können? Dazu waren schon ganz andere Kaliber vonnöten …
Wie vom Koris gestochen, sprang Kadeer auf, als er die Schritte vernahm. Gebannt und mit gespitzten Ohren lauschte er, dabei langsam einen Schritt nach dem anderen nehmend. Seine Schwerthand näherte sich dem Griff seiner Waffe, umfasste ihn. Einen Moment später befand er sich wieder am Durchgang, der hinaus auf die Gasse führte. Ein rascher Blick nach links – niemand zu sehen. Dann die andere Richtung.
Humpelnd mühte sich die Gestalt durch die Nacht. Ihre Schritte waren kurz, wirkten unsicher. Ununterbrochen beschrieb ihr knorriger Stock einen Halbkreis; erzeugte dessen Spitze ein ungleichmäßiges TAPP-TAPP-TAPP, während sie über die ausgelegten Steine glitt. Mit angehaltenem Atem starrte Kadeer den ausgemergelten Mann an, der immer näher kam. Was er am Leibe trug, konnte man nur schwer als Kleidung bezeichnen. Willkürliche Fetzen in den unterschiedlichsten Farben und Formen; zusammengehalten von schwachen Nähten und durchzogen von Löchern in allen Größen. Reine Zeitverschwendung, überkam es Kadeer, der sich schon ernüchternd abwenden wollte – ehe ihm die Geldkatze auffiel, die den behelfsmäßigen Strick auf Hüfthöhe ziemlich zu erschweren schien. Ein dünnes Grinsen formte sich in Kadeers Gesicht. Mit gezücktem Schwert trat er auf die Gasse hinaus und bezog breitbeinig Position.
TAPP-TAPP-TAPP … Der Fremde schien ihn noch immer nicht bemerkt zu haben. Unablässig ging er seines Weges; hob nicht einmal den Schädel, um seine Umgebung zu begutachten. Du Narr! triumphierte Kadeer gedanklich.
Nur noch wenige Schritte trennten ihn von seinem nächsten Opfer. Ganz allmählich erkannte Kadeer nun auch Details, welche ihm zuvor entgangen waren. Etwa die kantigen Gesichtsformen des anderen; unterstrichen durch schwarze Bartstoppeln. Oder der helle Streifen Narbengewebe, der sich quer über dessen Antlitz zog; ein reichlich abstoßender Anblick, wie Kadeer fand. Und was war das für ein Ding auf Augenhöhe? Ein Tuch? Im Dunkel der Nacht konnte Kadeer nur vage Vermutungen anstellen.
Langsam hob er sein Schwert. Als der Unbekannte die Klingenspitze spürte, hielt er inne. Seine freie Hand tastete nach der Klinge. Umspielten sie. Der daraufhin folgende Ausdruck in seinem Gesicht wirkte teilweise wissend, teilweise amüsiert. Die letztere Hälfte ließ Kadeer wütend werden. Wofür hält sich dieser Krüppel eigentlich? Seine zusammengepressten Lippen bebten, ehe er zu sprechen begann: „Wenn du diese Nacht überstehen möchtest, dann her mit der Katze!“
Kadeer hatte mit vielem gerechnet: einem Kniefall, heulenden Gnadengesuchen, vielleicht sogar ein sinnloser Fluchtversuch – doch sein Gegenüber beglückte ihn weder mit dem einen noch dem anderen. Stattdessen entrang seiner Kehle ein kratziges, raues Lachen, während er den Kopf schüttelte. Der Zorn in Kadeers Brust schwoll um ein Vielfaches an. Dieser Mistkerl macht sich lustig über mich! Keine Frage – dieser stinkenden Made würde er so oder so die Kehle aufschlitzen; völlig gleich, ob er ihm nun freiwillig sein Hab und Gut geben würde oder nicht.
Kadeer hatte den Mund schon geöffnet; wollte dem Fremden einen entsprechenden Konter entgegenschmettern – als sein Gegenüber zu sprechen begann: „Junge, ein gut gemeinter Rat: Lass es sein.“
Kadeer lachte auf. „Einen Dreck werde ich tun! Eigentlich wollte ich dich nur um dein Geld erleichtern, doch jetzt werde ich dich aufschlitzen wie ein Mastschwein!“
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun“, entgegnete der Fremde mit harter Stimme und blickte auf. Kadeer schluckte, als er die Binde erkannte, die um seine Augen gewickelt war. Zwei hellrote Ovale hatten den Stoff getränkt. Blut?
Er schluckte ein zweites Mal. Die Schwertklinge bebte. Unsicherheit und Furcht fingen an, sich Kadeers Seele zu bemächtigen. Nein! schrie er innerlich auf – und stürmte vor; das Schwert erhoben und einen Schrei auf den Lippen.
Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig. Elegant, nahezu mühelos wich der Blinde Kadeers Angriff aus, dabei gleichzeitig seinen Stock schwingend, der zielsicher die Kniekehlen des jungen Halsabschneiders fand. Begleitet von seinem eigenen Schmerzensaufschrei, war es nun Kadeer, der einen Kniefall beschrieb.
„Genug?“ zischte der Blinde gereizt.
Kadeer blinzelte sich die Tränen aus den Augen; stemmte sich mit geschürzten Lippen in die Höhe, den Griff seines Schwertes noch fester umschlungen.
Erneut kam ihm der Blinde zuvor.
Mit einem hässlichen POING! traf dessen Stab Kadeers Stirn. Haut platzte auf und warmes Blut ergoss sich aus der Wunde. Der nächste Treffer galt Kadeers Kehle und sorgte dafür, dass der Halsabschneider röchelnd zusammenbrach. Doch noch immer weigerte sich dieser, sich geschlagen zu geben. Zitternd hob er sein Schwert in die Höhe, holte zum Schlag aus –
- als sich der Stock des Blinden unvermittelt teilte und Kadeers vermeintliches Opfer nun ein Schwert in der einen und eine Schwertscheide in der anderen hielt.
Ein Streich war ausreichend, um Kadeers Klinge zu zerteilen. Klimpernd landete die abgebrochene Schneide irgendwo neben ihm.
Als sich die Schwertspitze des anderen in Kadeers Schritt bohrte, fuhr dieser zusammen und warf seine nun nutzlose Waffe davon.
Der Blinde beugte sich vor. Trotz seiner verborgenen Augen – oder was von ihnen noch übrig war – konnte sich Kadeer nicht des Gefühles erwehren, als würde er angestarrt werden; als sähe der Blinde nur zu genau, wer da vor ihm kauerte. Die Vorstellung bescherte ihm eine Gänsehaut.
„Du hast ja keine Vorstellung, wie leicht es mir fallen würde, dich in zwei Hälften zu teilen – oder deiner Männlichkeit zu berauben“, flüsterte der Blinde – und verstärkte den Druck seiner Waffe. „Ganz bestimmt wärst du nicht der erste. Aber an meinen Händen klebt schon genug Blut; wesentlich mehr, als einem Leben bestimmt zu sein vermag. Eines noch: Wenn du wirklich vorhast, hier am Leben zu bleiben, dann traue keinem. Hier trügt der Schein öfter als sonst wo in Saramee!“
Und dann war er verschwunden – und mit ihm die Klinge zwischen Kadeers Beinen.
Der junge Halsabschneider stöhnte auf. Er zitterte am ganzen Körper. Tränen und Blut wanderten an seinem Gesicht hinab. Er bemerkte beides nicht. Sein nutzloses Schwert ließ er zurück, als er in dem Durchgang verschwand; sich nach allen Seiten umblickend. Von seiner einstmals so selbstsicheren und stolzen Erscheinung war nicht mehr viel übrig geblieben. Kadeer war kaum mehr als ein Häuflein Elend. Er hatte seine Lektion gelernt. Das Leben als Halsabschneider war nichts für ihn, wie auch dieser Teil Saramees. Das einzige, was er hier erbeuten würde, wäre die Verdammung und ein vorzeitiges und bestimmt reichlich schmerzhaftes Ableben. Nein. Hier konnte er unter gar keinen Umständen bleiben!
Nur noch rasch meine Sachen einsammeln und –
Eine kalte Hand presste sich unnachgiebig an seine Kehle und raubte Kadeer den Atem. Brutal wurde er zur Seite gerissen; spürte er im Rücken die Hauswand – und in seiner Seite das tödliche Versprechen eines Messers. Die Gestalt selbst erkannte er nicht. Sie blieb im Dunkeln verborgen; war eine finstere Schimäre aus der Schwärze der Nacht.
Und sie zögerte keinen Moment. Gnadenlos stach sie zu. Einmal, zweimal, dreimal … immer und immer wieder. Mit dem Blut wich auch jegliches Aufbäumen und sämtliche verbliebene Kraft aus Kadeers Körper. Schlaff sank er zu Boden, eine scharlachfarbene Spur an der Hauswand hinterlassend. Eisige Kälte betäubte seine rechte Gesichtshälfte. Auf seinen Lippen, seiner Zunge schmeckte er brackiges Wasser und feuchte Erde. Hände zerrten an ihm, bemächtigten sich der wenigen Habseligkeiten, die er bei sich trug. Mit immer schwerer werdenden Augen verfolgte Kadeer, wie der Unbekannte über ihn und die immer größer werdende Blutlache stieg, dabei ein höhnisches Lachen ausstoßend. Ehe sein Blick brach und das Leben vollends aus ihm entwich, gelang es Kadeer, einen Blick in das Antlitz seines Mörders zu werfen. Hätte … es … mir … denken … sollen …
„Narr!“ zischte Thyseem über seine Schulter hinweg und verschwand, dabei ein schiefes Grinsen vorzeigend, in der Gasse.

- ENDE -

taverne/kurzgeschichten/halsabschneider.txt · Zuletzt geändert: 05.03.2016 21:14 von 127.0.0.1