Götterdämmerung (Autor: Torsten Scheib)
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

Götterdämmerung

Autor: Torsten Scheib

 

Die Geschichte ist nominiert für den Vincent Preis und stammt aus der Anthologie Zwielicht

 

 

 

Ragnarök hatte es ihre Kollegin Astrid vorhin genannt. Vorhin, als alle aus der Wäscherei nach draußen geströmt waren und zum Himmel gestarrt hatten. Hinauf zu dem blutroten Schimmer, der sich wie ein riesiges Laken über die Welt gelegt hatte. Keine Wolken, keine Sonne. Nur Rot. Nicht mal ein Kondensstreifen!

Und während Astrid kettenrauchend neben ihr gestanden hatte, war aus der anfänglich unbeschwerten Versammlung langsam aber sicher etwas gänzlich anderes geworden. Angst, Schrecken, Unsicherheit. Sie waren förmlich greifbar geworden. Manche ihrer Kollegen hatten geschluchzt oder gezittert, manche sogar gebetet. Nur sehr wenige waren gefasst geblieben. Eine Handvoll vielleicht. Sie hatte dazugehört. Dieses rote Leuchten sollte also Ragnarök sein? Die Ankunft des dunklen Drachens? Das Ende der Welt? Drauf geschissen. Das war lediglich ein weiterer Beweis dafür, welchen Dreck die Menschen in die Luft schleuderten. Treibhauserwärmung und so. Wahrer Schrecken musste den Leuten, die so einen Unsinn ersannen, wohl noch nie widerfahren sein.

Und dann hatte ihr Handy geklingelt.

Die Verbindung war sehr undeutlich gewesen; der Großteil des Anrufes vom konstanten Rauschen einfach verschluckt. „Victor“, „Malte“ und „geholt“ waren die einzigen drei halbwegs verständlichen Worte gewesen. Gesprochen von ihrer Mutter. Ausreichend, um den Inhalt des Anrufes begreifen zu können. Genügend, um ihr Blut in Eiskristalle zu verwandeln.

Ohne auf das Geschrei ihres Chefs zu achten, war sie zu ihrem alten Toyota gerannt und losgefahren.

 

Die Reifen schlingerten über die halbgefrorene Straße. Die Karre schien Maria förmlich zu verhöhnen. Bremsen, Gas geben, gegenlenken. „Komm schon! Komm schon!“, presste sie mit geschlossenen Zähnen hervor, winzige Speicheltröpfchen ausstoßend. Ihre Züge waren zu einer Fratze geworden, bestens unterstrichen durch die hervorstehende Ader auf ihrer Stirn. Neben ihr auf dem Beifahrersitz rutschte das Handy hin und her. Weder ihre Eltern noch die Polizei waren erreichbar gewesen. Erst waren die Leitungen besetzt, dann tot.

Scheppernd donnerte der rechte Vorderreifen über den Bordstein. Maria glaubte, den Aufschrei der Achse zu hören. Dann folgte der Hinterreifen.

Der Wagen stand kaum, als sie schon die Fahrertür aufriss und losstürmte. Ihre Eltern warteten bereits im Vorgarten. Das Gesicht ihrer Mutter war aschfahl. Sie schlotterte am ganzen Körper. Ihr Vater hatte einen Arm um die Hüfte seiner Frau gelegt. Heiße Tränen des Zorns brachen aus Maria hervor, als sie den hässlichen, tief klaffenden Schnitt auf seiner rechten Wange entdeckte. Rings um die Wundränder schimmerten bereits die ersten Hämatome. Getrocknetes Blut klebte in seinem Bart, auf seinem Hemd.

„Es tut mir so leid, Kleines“, begann er. Im roten Zwielicht erkannte Maria nun auch in den Augen ihres Vaters Tränen. „Ich hab … hab versucht, ihn aufzuhalten, aber der Drecksack war einfach stärker …“ Beschämt starrte er auf seine Gummistiefel. „Ich habe versagt.“

„Hast du nicht.“ Rasch wischte sich Maria Tränen und Rotz aus dem Gesicht und umarmte ihren Vater. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre war er noch immer ein Bär von einem Mann.

„Wenn jemand versagt hat, dann die beschissenen Bullen.“

Wie oft hatte sie es ihnen gesagt? Wie oft hatte sie diesen Arschgeigen vom Gericht beteuert, dass ihr Ex-Mann - ihr gewalttätiger, drogensüchtiger, krimineller Ex-Mann - eine Gefahr darstellte und man ihn am besten bis zum jüngsten Tag hinter Gittern verrotten lassen sollte? Und immer hatten diese sturen Wichser nur genickt, dass ihr und ihrem Sohn nichts zustoßen, man sich darum kümmern würde. Immer und immer wieder. Und stets hatte sie ihnen beteuert, er würde seinen Sohn eines Tages holen - ganz, wie er es ihr ins Gesicht geschmettert hatte, als er in Handschellen aus dem Gericht geschleift worden war.

Letzte Woche hatte man ihn entlassen. Vorzeitig. Wegen guter Führung. Selten so gelacht.

Aber man würde sich ja darum kümmern. Na sicher doch.

Und deswegen hatte er auch seinen achtjährigen Sohn verschleppen können. Deswegen war ihr Vater jetzt ein Fall für den Notarzt.

Sie stürmte die Treppen ins Haus hinauf und kehrte mit dem Autoschlüssel ihrer Eltern zurück.

„Was dagegen, wenn ich mir den Wagen für eine Weile borge? Mit meiner Karre komme ich wohl nicht mehr besonders weit.“ Dabei deutete sie mit einem knappen Nicken auf ihren Toyota.

Ohne eine Antwort abzuwarten stapfte sie ums Haus, holte die Axt aus dem Geräteschuppen und warf sie auf die Ladefläche des Pritschenwagens.

„Was hast du jetzt vor?“, wollte ihr Vater wissen.

„Den Mistkerl schnappen.“ Sie riss die Wagentür auf. „Meinen Sohn zurückholen.“

„Aber du kannst doch nicht … und schon gar nicht jetzt, wo … überlass das doch lieber der Polizei!“, warf ihre Mutter mit zittriger Stimme ein. „Die können doch noch am ehesten -“

„Wo war denn die Polizei, als wir sie gebraucht haben, hm? Vergesst die Bullen. Die tun rein gar nichts. Außerdem sind die Leitungen tot, falls es euch noch nicht aufgefallen ist.“

Sie bereute ihre letzten Worte umgehend. Ihre Eltern hatten das nicht verdient. Immerhin waren sie immer für Malte und sie da gewesen, hatten ihnen ein Dach über dem Kopf gegeben.

Hinter ihr das Knirschen von Schnee. Die Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter. Das leise Schluchzen ihrer Mutter.

„Lass mich wenigstens mitkommen, Liebes.“

Zärtlich legte Maria ihre Hand auf die ihres Vaters und drehte sich um. „Das will ich aber nicht“, sagte sie schließlich. „Und sieh dich nur an. Du gehörst in ein Krankenhaus. Die Wunde muss genäht werden.“

„Wegen dem Kratzer? Ist doch kaum der Rede wert!“

„Vielleicht.“ Sie fuhr über seine unverletzte, linke Wange. Blickte über seine Schulter. „Aber Mama braucht dich jetzt. Und ich werde mit dem Drecksack auch alleine fertig; glaub mir.“

„Er ist in die Richtung abgehauen, oder?“

Ihre Eltern nickten.

Sie startete den Motor und fuhr los.

 

Die Flex-Cuffs - Einwegfesseln aus Plastik - gruben sich tief in die Haut. Der Tischtennisball brachte ihn zum Würgen. Ein Streifen Isolierband auf seinen Lippen verhinderte, dass er ihn ausspie. Stöhnend wand er sich im Sitz; kämpfte er vergeblich gegen die Fesseln an den Armgelenken. Das Antlitz des Jungen wirkte verbissen.

Ohne den Blick von der Straße abzuwenden, packte Viktor seinen Sohn an den zusammengebundenen Händen; zog ihn näher zu sich heran, schob ihn dann wieder zurück. Maltes Hinterkopf krachte gegen der Wagentür. Vor seinen Augen tanzten Sterne.

„Ich tu dir nichts!“ Ermahnend hob Viktor einen Zeigefinger. Aus den Lautsprechern des Radios verkündeten Rare Earth, dass sie feiern wollen. Mit der anderen Hand justierte er kurz den Sitz seiner Halbautomatischen, bevor er seinen Sohn eindringlich fixierte. Die tätowierte Träne unter seinem Auge wirkte im roten Zwielicht wie ein Tropfen Blut.

„Diese ganze Scheiße hier … daran ist nur diese verfluchte Schlampe schuld!“ Eine Mischung aus Magensaft und Alkohol schlug Malte entgegen und traf ihn mit der Wucht einer Abrissbirne. Er versuchte, den Atem anzuhalten; versuchte dem Gestank zu entgehen … ohne Erfolg.

„Sie hat dich gegen mich aufgebracht!“ Ein kurzer Blick auf die leere Straße. Kein anderes Auto war sonst unterwegs. Alle hockten sie zuhause oder in irgendeiner beschissenen Kirche, die Hosen gestrichen voll. Weicheier. „Und dein Großvater auch! Und deine Großmutter! Sie alle hassen mich! Sie hassen mich, weil ich mir nichts sehnlicher wünsche, als mit meinem Jungen zusammenzusein …“

Für den Bruchteil einer Sekunde klang Viktors Stimme tatsächlich wie die eines liebevollen Vaters. Doch das sinistre Züngeln der Schlange, die sich dahinter verbarg, war einfach nicht zu überhören.

Malte zuckte zusammen wie unter einem Stromstoß, als Viktors ungewaschene Pranke über seinen Hals wanderte, sein Haar zerzauste. Eine Träne rann an der Wange des Jungen hinab. Salzig. Keine Tinte.

Der Camaro RS setzte zu einer kleinen Extravaganz an. Viktor schnappte sich das Steuer und lenkte dagegen, ehe sie im Graben landeten. Schneeflocken klatschten vereinzelt gegen die Frontscheibe. Maltes Vater schaltete die Scheibenwischer an. Quietschend gingen die Wischarme ihrer Arbeit nach.

„Schon sehr bald …“, wieder der erhobene Zeigefinger, „… schon sehr bald werde ich dir alles erklären. Und dann wirst du verstehen …“ Viktors Kehlkopf tanzte wie ein Korken auf dem Wasser. Er beugte sich vor, schnappte sich die zerknüllte Packung Kippen. Sein Blick fiel auf den dort abgebildeten roten Apfel. Der Wurm, der frech hervorlugte, präsentierte ein verschmitztes Lächeln und eine Filterlose im Mundwinkel. Viktor tat es ihm gleich. Seinem Sohn zublinzelnd, lehnte er sich wieder zurück. Blau-grauer Dunst waberte Sekunden später durch das Innere des Wagens. Rare Earth waren mittlerweile durch Head East abgelöst worden.

Mit der Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger wies Viktor nach draußen. Hin zum roten Himmel. „Wie findest du das? Ist doch toll, oder?“

Natürlich konnte ihm sein Sohn nicht antworten.

„Und dieser Wagen hier ist auch toll! Camaro RS - ein echter Klassiker! Nachtschwarz mit einem ’72er V8-Motor … der schiere Wahnsinn!“ Aus Viktors Nasenlöchern quoll die nächste Ladung Rauch. „Der hat … einem Freund von mir gehört, aber der musste kurzfristig … ins Ausland, also hat er ihn mir solange … ausgeliehen.“

„Der Hammer, oder?“

Viktors Blick galt der Fußmatte.

„Und wenn dies alles vorbei ist … wenn diese ganze … Scheiße … durchgestanden ist, dann verspreche ich dir, fahren wir rauf zum -“

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

Es ging alles sehr schnell.

Blendende Helligkeit. Infernalisches Gebrüll. Die Erde erbebte. Der Wagen wurde durchgeschüttelt. Feuer. Überall. Dreck, der sich auf die Frontscheibe legte. Unkontrolliertes Schlingern. Ein kurzer Sturz in die Tiefe, der Vater und Sohn nach vorne riss.

Dunkelheit.

 

„Wollt ihr mich verarschen …?“, dröhnte Marias eigene Stimme in ihrem Schädel, als die ersten glühenden Speerspitzen niedergingen. Das schrille Pfeifen, mit dem die leuchtend-gelben Schweife den roten Himmel zerschnitten, klang wie ein Versprechen. Ein Versprechen, das in seiner ganzen Hässlichkeit auch erfüllt wurde.

Mit einem Mal war Maria nicht mehr auf einer glatten, schneeüberzogenen schwedischen Landstraße - sie war in einem gottverdammten Krisengebiet. Rings um sie herum explodierte der Asphalt und spuckte massive Brocken und Schüttgut aus. Die Bremsen des Pritschenwagens quietschten. Mit ganzer Kraft riss Maria das Lenkrad zur Seite, gab wieder Gas, bremste … wich den Einschlägen oftmals nur um wenige Zentimeter aus, schlingernd und torkelnd wie eine alte Fregatte auf stürmischer See. Die Klimaanlage sonderte einen beißenden Gestank ab. So ähnlich roch es auch immer an Sylvester. Der Mief brachte sie zum Husten. Ihre Augen fingen zu tränen an. Die Welt verschwamm. Ganz in der Nähe erscholl ein ins Mark gehendes Krachen. Als hätte jemand gerade den größten Zahnstocher der Welt entzwei geteilt.

Ein gewaltiger Schatten legte sich direkt vor ihr auf die Straße.

Dann … Schwärze.

 

Das Zittern seines Wagens riss Viktor aus der Ohnmacht. Verwirrt glotzte er auf das Lenkrad vor ihm. Auf das verstummte Radio. Kein Head East, kein Rare Earth - nicht mal Steppenwolf. Erst dann wanderte seine Hand zu der hässlichen Beule über seinem rechten Auge. Der dumpf pochende Schmerz verwandelte sich in infernalische Agonie, nachdem er sie berührt hatte. Wenn er doch nur ’ne Pulle Jackie greifbar gehabt hätte …

Die Sonnenblende knarzte wie altes Leder, als er sie aufklappte. „Oh, Scheiße!“, entfuhr es ihm, nachdem er zum ersten Mal einen Blick auf das gewaltige Ding im Spiegel geworfen hatte.

Erst danach fiel ihm auf, dass er alleine war. Die Beifahrertür stand sperrangelweit offen.

„Leck mich doch am - Malte? Wo zum Geier steckst du, Junge? Malte!“ Ungeschickt fummelte er am Türgriff herum, ehe die Fahrertür ihren Widerstand aufgab. Viktors Beine versanken im Schnee. Vom Schwindel erfasst, hielt er sich mit einer Hand am Türrahmen fest und spuckte seinen kompletten Mageninhalt aus.

Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Lippen. Zog sich langsam in die Höhe. Der Schwindel und die Übelkeit ließen schon wieder nach - gut. Aber wo steckte bloß der Junge?

Erst jetzt bemerkte er, dass der Wagen quer im Straßengraben lag. Die Front des Camaros hatte sich tief ins Erdreich gegraben und röchelte weiße Dampfschwaden hervor.

Viktor wandte sich der Straße zu. Halb kletternd, halb robbend brachte er den Graben hinter sich. Die eisige Kälte betäubte seine Hände wie eine Line Koks die Nase - allerdings ohne die Glücksgefühle. Stattdessen kam die folgende Entdeckung einem gut gezielten Tritt zwischen die Beine gleich.

Die Landstraße sah aus, als wäre sie von einem Kampfgeschwader bombardiert worden. Tiefe Löcher und ein Spinngeflecht aus Rissen überzogen den Asphalt. Schwarzer Rauch stieg aus den Kratern hervor und wurde sofort vom kalten Wind zerrissen. Manche der Bitumenbrocken brannten. Ein stechender Duft legte sich auf seine Lungen und machte das Atmen schwer.

Und die Erde bebte immer noch. Stärker als zuvor.

Viktors Hinterkopf fing zu prickeln an. Ein untrügliches Zeichen. Seine Gedärme zogen sich immer weiter zusammen, als er sich langsam umdrehte; ganz … langsam …

Fast schien es, als hätten die Bäume nur darauf gewartet. Wie Spielzeug wurden sie immer stärker durchgeschüttelt, bevor sie einfach in der Mitte auseinanderbrachen oder die schweren Wurzeln aus der Erde schossen wie Tentakel; von gewaltigen Erd- und Schneemassen begleitet.

Die Augen weit aufgerissen, das Herz immer schneller rasend, wagte Viktor einen Blick über seine Schulter. Das Gleiche passierte auch auf dem rechter Hand liegenden Waldstück.

Und sein Sohn war verschwunden.

Kalter Hass erfüllte jede Pore von Viktors durchtrainiertem Körper. Er taumelte am Graben entlang. Vorbei an den noch immer glühenden Bremslichtern und dem aufgeklappten Kofferraum. Seine Jeans als Schlittenersatz nutzend, rodelte er den Graben hinab. Neben der Beifahrertür wurde er schließlich fündig. Etwas, das nach einem Stück Isolierband aussah. Ein Tischtennisball. Fußspuren. Sie führten die andere Seite des Grabens hinauf. Richtung Wald.

Ein diabolisches Grinsen überzog Viktors Gesicht. Seine Hand machte sich auf den Weg Richtung Hosenbund, wo seine Halbautomatische noch immer steckte.

Entschlossen nahm er die Verfolgung auf.

 

Die mit Rissen überzogene Frontscheibe war das erste, was Maria zu sehen bekam, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Langsam hob sie den Kopf, zerknüllte den Airbag, der Schlimmeres verhindert hatte. Ihre Brustmuskeln brüllten förmlich vor Schmerz, als sie ungeschickt den Gurt löste. Im Innern des Wagens stank es noch immer nach Schwefel. Eisige Winterböen empfingen sie, nachdem sie ausgestiegen war. Das Atmen fiel ihr hier draußen wesentlich leichter, bis -

„Was zum …?“, entfuhr es ihr leise. Ungläubig starrte sie auf die Legionen von umgestürzten und zerfetzten Fichten, Tannen und Kiefern. Jahrhunderte des ungestörten Wachstums - dahingerafft in wenigen Sekunden. Wohin sie auch blickte, es war stets das gleiche, hoffnungslose Bild. Schwer, sich davon loszureißen. Doch irgendwie gelang es ihr. Humpelnd und mit dem Nachgeschmack von Blut auf ihrer Zunge, wandte sie sich der Ladefläche zu. Die Axt war noch da. Immerhin etwas. Entschlossen packte sie den Holzgriff und hielt das klobige Ding vor sich in die Höhe. Der rote Himmel überzog den Keilwinkel mit einer Patina aus Karmesin. Zufrieden legte sie die Axt über ihre Schulter und bahnte sich ihren Weg entlang der vollständig zerstörten Straße.

 

Seine Lungen schienen jeden Augenblick zu bersten. In seiner Seite schien ein Messer zu stecken. Dennoch lief Malte weiter. Tiefer hinein in die Überreste dessen, was vor kurzem noch ein Wald gewesen war. Die Kraft wich aus ihm wie Luft aus einem geplatzten Reifen. Jeder weitere Schritt erforderte eine größere Kraftanstrengung. Die Augen halb geschlossen, das Denken eingestellt und die Umwelt ignorierend, schwankte er weiter. Stolperte er über Wurzeln, die ihn aus dem Gleichgewicht brachten. Kletterte er über umgestürzte Bäume. Loses Erdreich und Steine brachten ihn zu Fall. Irgendwie rappelte er sich aber stets wieder auf. Trotz der Handfesseln, die er einfach nicht loswurde.

Undeutlich erkannte er den nächsten Baumstamm vor sich. Er war fast so groß wie er selbst. Egal. Er musste da r-

Ein Schuss zerschnitt die Stille. Einer Lawine gleich, bahnte sich das Echo seinen Weg durchs Gehölz. Entsetzt starrte Malte auf das klaffende Loch. Direkt vor ihm, im Stamm. Rindenstücke hatten sich auf dem Schnee verteilt und pulverisiertes Holz schwebte wolkengleich in der Luft.

Als er zurückblickte, erkannte Malte seinen Vater, der rasch näher kam. Der Lauf seiner Pistole war auf ihn gerichtet.

Und dann stand er mit einem Mal neben ihm. Packte seine gefesselten Hände.

„Du dachtest wohl, du könntest mir entwischen, wie?“ Zwischen den Worten schnappte Viktor nach Luft. „Du kleiner Scheißer!“ Es folgte ein harter Schlag.

Viktor blickte über seine Schulter. Sie konnten nicht wieder zurück; ganz schlechte Idee. Vielleicht hatte diese bescheuerte Schlampe die Bullen gerufen. Und vielleicht waren sie schon längst unterwegs.

Ihre einzige Chance war die Flucht nach vorne.

„Beweg dich!“ Hart schleifte Viktor seinen Sohn hinter sich her.

Ich hätte sie alle umbringen sollen. Gleich auf der Stelle.

 

Genüsslich grub die Kälte ihre frostigen Klauen in Marias Körper. Der Parka half herzlich wenig bei diesen Temperaturen. Vom Wind ganz zu schweigen; ein gemeiner Bastard, der nur im Sinn hatte, sie vom Antlitz der Erde zu fegen.

Gebeugt und den Kopf unter der Kapuze des Parkas verborgen, marschierte sie weiter. Unablässig, unnachgiebig. Getrieben von der Sorge, angestachelt vom Hass. Nichts anderes zählte mehr. Sie waren die Schmiere, die ihr Getriebe am Laufen hielt. Selbst für Gedanken gab es keinen Platz mehr. Sie schienen wie fortgewischt - oder fortgeblasen, bedachte man das unablässige Rauschen in Marias Gehörgängen.

Längst spürte sie ihre Hände nicht mehr. Sie waren zu gefühllosen Anhängseln geworden, die es irgendwie fertig brachten, die Axt weiterhin auf der pochenden Schulter zu halten. Gleiches galt auch für ihre Füße. Trotz der dicken Lederstiefel hätte sie auch barfuss über die zerstörte Straße marschieren können. Einen besonders großen Unterschied hätte es nicht gemacht.

Scheiß drauf. Wenigstens hatte sich dieser verfluchte Schwefelgestank verzogen.

Apathisch ging sie weiter. Eine einsame Gestalt, beschienen vom unablässigen Rot, weit über ihr am sternen- und wolkenlosen Firmament.

Beinahe hätte sie den Camaro übersehen.

Die Scheißkarre gehörte Lars - oder Mister Big, wie er sich gerne betitelte. Maria nannte ihn meist nur schwanzlosen Versager. Das Letzte, was sie von ihm gehört hatte, war, dass er nach Thailand geflüchtet war, nachdem die Polizei sein Drogenlabor gestürmt hatte.

Wie konnte ich nur so tief fallen? Die Frage stellte sie sich nicht zum ersten Mal. Sicher, sie war damals Hals über Kopf in Viktor verliebt gewesen, da hinterfragte man nicht den obskuren Freundeskreis oder die dubiosen Machenschaften der großen Liebe. Und hieß es nicht, dass zur Liebe auch die Akzeptanz der Schwächen des anderen gehörte? Blödsinn. Sie war einfach nur ein naives Dummchen gewesen, mehr nicht. Selbst, nachdem er sie zum ersten Mal grün und blau geprügelt hatte, im Meth-Rausch. Und die Gewaltausbrüche waren sogar weitergegangen, als sie schwanger war. Mit der blanken Faust, mit dem Gürtel, mit allem, was zur Verfügung stand. Schließlich war sie irgendwann aufgewacht; hatte den verdammten Ring abgestreift und in irgendeine dunkle Ecke gepfeffert. Bis dass der Tod euch scheidet - am Arsch. Der Traum war zu Ende gewesen, willkommen in der wahren Welt. Niemals würde sie den Augenblick vergessen. Eine Hochschwangere, die mitten in der Nacht ihren psychopathischen Ehemann verließ und Zuflucht im Frauenhaus fand.

Keine große Sache, dachte sie mit triefender Ironie. So was passiert doch ständig.

Seitdem hatte sie niemals mehr zurückgeblickt. Immer nur nach vorne. Die Zukunft zählte. Für Malte und sie. Nicht die Vergangenheit.

Doch jetzt war die Vergangenheit wieder zurückgekehrt. Mit spitzen Zähnen und scharfen Krallen. Als ob die ganze Scheiße nicht schon schlimm genug wäre.

Kraftlos zerrte sie die Axt von der Schulter. Ihr Gewicht riss sie nach vorne. Der Keil traf scheppernd auf ein winziges Stück unbeschädigter Straße.

Ihre Waffe einfach hinter sich herziehend, stakste sie zum offenen Kofferraum des Camaro. Fahrer- und Beifahrertür standen ebenfalls offen. Keine Spur von Malte und Viktor.

Zornig trat sie gegen die Rückseite des Wagens. Immer und immer wieder. Dann folgte die Axt. Folgten Beulen und Dellen. Erst das eindeutige Krachen und der Regen aus Glas besänftigten ihren Zorn ein wenig.

Schließlich wandte sich Maria vom Camaro ab und nahm die gleiche Strecke, die auch Viktor genommen hatte. Keuchend mühte sie sich am anderen Ende des Grabens in die Höhe, erblickte die Fußspuren, die sich zwischen den Legionen umgestürzter Bäume verloren.

Die Axt landete erneut auf ihrer Schulter. Sie setzte sich in Bewegung.

Hinter ihr - ein Geräusch. Eigenartig, unheilschwanger.

Sie hielt inne.

Ihre Augen weiteten sich.

Die ersten Tiere der Stampede überquerten gerade die Straße. Maria glaubte, Hirsche, Luchse, Vielfraße, Elche, Eichhörnchen, Kaninchen, Wühlmäuse, Füchse - sogar Rentiere auszumachen. Im Eiltempo überquerten sie den Graben. Die größeren Tiere sprangen einfach darüber. Keines schenkte ihr auch nur die geringste Beachtung. Alle suchten ihr Heil in der Flucht.

Flucht? Wovor?

Maria sah zurück. Über die Straße, hin zum nicht minder zerstörten, angrenzenden Wald. Die letzten Tiere brachen gerade zwischen den Baumstümpfen hervor.

Ein Schatten sank über Maria. Ihr Blut verwandelte sich in zähe Melasse, als sie den Bär erblickte, dessen Brüllen die anderen Tiere übertönte. Auch er schenkte ihr keine Beachtung. Marias Körper hatte einen anderen Zustand angenommen. Er schwitzte und zitterte. Nicht vor Kälte - aus Furcht.

Aber sie konnte nicht einfach hier stehen bleiben und auf was auch immer warten.

Also folgte sie den Tieren.

Der Schnee war übersät mit Huf- und Pfotenabdrücken.

Na klasse.

Ihr Hinterkopf juckte wie verrückt. Kein Zweifel: was auch immer die Tiere aufgescheucht hatte, war direkt unterwegs zu …ihr.

 

„Wow!“ Brutal zerrte Viktor seinen Sohn beiseite. Zur Hilflosigkeit verdammt, vollführte Maltes geschwächter Körper eine halbe Pirouette, ehe sein Gesicht Bekanntschaft mit der rauen Rinde einer umgestürzten Fichte machte. Blut rann ihm über die Lippen und das Kinn, als er neben seinem Vater zusammensackte.

Der Lauf der Fort-12 wies in die Richtung des unablässigen Stromes, der an ihnen vorbeischoss. Atemlos verfolgte Viktor die Karawane der Waldbewohner. Keines der Tiere griff an. Denen waren sie scheißegal.

Dennoch war der Anblick zu viel für Viktors drogenverkleistertes Hirn. Er atmete jetzt immer schneller. Seine Augen quollen aus den Höhlen hervor. Seine Züge nahmen einen irrsinnigen Ausdruck an. Schweißtropfen funkelten auf seiner Stirn wie Diamanten. Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf; eine Pauke aus Fleisch und Blut.

Als er den Bär erblickte, brachen die Dämme.

Er drückte ab. Immer und immer wieder. Sein Kreischen wurde von den Schüssen überdeckt. Das Mündungsfeuer ließ sein Antlitz noch diabolischer erscheinen. Neben ihm presste Malte beide Hände gegen die Ohren, hielt die Augen geschlossen. Tränen liefen über seine Wangen.

Begleitet von einem dumpfen BUMM! donnerte der mächtige Körper auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Glasige Augen blickten ins Leere. Eine rosa Zunge lugte lasch aus dem Maul des Tieres hervor.

„Häh? Häh? Was sagst du jetzt, was sagst du jetzt, Motherfucker?“ Viktor war wieder aufgesprungen, seinen Sohn mit sich ziehend. Angetrieben von Adrenalin und Irrsinn, fuchtelte er mit seiner leergeschossenen Halbautomatischen vor dem Tier herum.

„In diesem Dschungel gibt es nur einen König und der bin ich!“ Das leere Magazin landete im niedergetrampelten Schnee und wurde durch ein neues ersetzt. Die Flocken fielen jetzt immer dichter.

„Nicht gut“, raunte Viktor. Unbarmherzig zog er seinen Sohn hinter sich her.

 

Maria entgingen die Schüsse nicht. Deutlich hallte ihr Donnern durch die zerstörte Flora. Sie wandte sich nach links. Obwohl sich alles in ihr wehrte und sie das Gefühl hatte, als habe man sie gerade an eine Streckbank gefesselt, hetzte sie weiter. Die Schmerzen waren nur noch eine Randnotiz. Selbst der gewaltige Schatten, der - WUSCH! - über ihr vorbeiflog, erschien unwichtig.

 

„Ich will verdammt sein!“, entfuhr es Viktor, als er die kleine Hütte vor sich erblickte. Aus einem windschiefen Schornstein quoll grauer Dunst.

Er zögerte keine Sekunde. Näherte sich der geschlossenen Tür, trat sie ein und -

„Bitte nicht!“ Wie von der Tarantel gestochen sprang der alte Mann in Jägerkluft von seinem Stuhl auf; die Hände erhoben. Sein Blick klebte auf dem Lauf der Pistole, der auf seinen Kopf gerichtet war. „Bitte, bitt-“

Er kam nicht dazu, das Wort auszusprechen. Sein Hinterkopf verteilte sich über die Wand. Leblos sank er in den Stuhl zurück.

Langsam ließ Viktor die Waffe sinken. Nachdem er sie wieder in seinem Hosenbund verstaut hatte, zerrte er Malte in die Hütte und wandte sich der offenen Tür zu.

Der Sturm wurde immer schlimmer. Nahm die Ausmaße eines Blizzards an.

Über ihm ertönte ein eigenartiges Geräusch. Als schnitte etwas Großes - etwas verflucht Großes - durch die Luft. Er fasste nach der Klinke. Hielt inne. Blickte noch mal nach draußen.

Nein. Völlig unmöglich.

Kopfschüttelnd zog er die Tür hinter sich zu. Die Angeln waren zum Glück noch intakt.

Neben dem Eingang befand sich ein winziges, dreckverschmiertes Fenster. Seine Hand umklammerte den Griff der Halbautomatischen.

Und wenn sie doch …?

 

Scheiße, er hat mich gesehen! Unzählige Emotionen tosten durch Marias Verstand. Kauernd hatte sie hinter einem umgestürzten Baum Stellung bezogen, unweit von der Hütte entfernt, die mit jeder weiteren Sekunde undeutlicher wurde. Nicht mehr lange, und sie würde nicht mehr die Hand vor Augen sehen können. Rasch wischte sie sich übers Gesicht. Die verfluchten Flocken waren jetzt praktisch überall.

Sie schnappte sich die Axt.

(WUU-UUUSCH!)

Machte sich auf den Weg.

 

Fast schien es, als würde sie auf dem Grunde des Meeres laufen. Der Schneesturm zog und zerrte an ihr mit unmenschlicher Kraft. Immer wieder blinzelte sie sich eisige Flocken aus den Augen, die umgehend von neuen ersetzt wurden.

Zentimeterweise arbeitete sie sich vorwärts. Jeder Schritt wurde zu einer Qual. Doch sie durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt, so nahe am -

Unvermittelt tauchte die Hütte vor ihr auf. Sie umschlang den Griff der Axt, die sie die ganze Zeit über gegen ihre Brust gepresst hatte, noch fester.

Mit einem Mal kam ihr die ganze Aktion sinnlos vor. Kam sie sich hilflos und schwach vor; wurde sie zurück in die dunkle Vergangenheit geworfen.

Die Verzweiflung labte sich genüsslich an ihrem Verstand.

Es wurde auch nicht besser, als sie etwas an ihrer linken Schläfe spürte.

„Sieh an, wer da unter seinem Stein hervorgekrochen ist!“ Der Sturm zerriss Viktors Worte, verwandelte sie in traumhafte Andeutungen. Die Axt landete im Schnee. Langsam wandte Maria sich ihm zu.

„Dachtest du wirklich, du könntest ihn mir wieder wegnehmen?“

Maria antwortete nicht. Der Lauf wies jetzt zwischen ihre Augen. Gleichgültig blickte sie zu Viktor hinüber.

„Mann, Mann, Mann!“, bellte Viktor hämisch. „Du hast dich wirklich keinen Deut geändert. Bist noch immer die dumme kleine Fotze, die -“

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Seine Aufmerksamkeit galt jetzt einer anderen Sache: der Ankündung von etwas Gewaltigem. Der Aura des Entsetzens, die der gewaltige Schatten mit sich brachte wie der Schnitter den Tod; Fänge, die genüsslich Haut und Fleisch zerteilten und mit zitternden Nüstern das süßliche Lied des Blutes aufsogen …

WUU-UUUSCH …

Drei, vielleicht auch vier Sekunden. Eine winzige Zeitspanne - doch ausreichend für Maria, die in den Schnee eingesunkene Axt wieder hervorzubringen -

Der Schatten, die Entität, das Es … es war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war. Viktors vom Wahnsinn gezeichnetes Antlitz wandte sich wieder der Frau zu; jenem wehrlosen Ding, das er am liebsten mit seinen bloßen Händen in Fetzen gerissen hätte. Blutiges Lametta. Aber eine Kugel würde auch genügen. Nur eine? Fuck, nein! Das ganze beschissene Magazin würde er in ihren dürren Schlampenkörper jagen!

Doch es kam anders.

Maria wusste nicht, woher sie die Kraft fand. Aber sie war da und trieb sie … irgendwie … voran. Begleitet von ihrem eigenen, markerschütternden Aufschrei holte sie mit Schwung zum Schlag aus.

Viktor bemerkte den Angriff zwar, doch sein Rückzug erfolgte viel zu spät.

Den Schlag viel zu ungenau und rein instinktiv ausgeführt, traf nicht der spitz zulaufende Keilwinkel Viktors Antlitz, sondern lediglich die stumpfe Rückseite, welche allerdings nicht weniger Schaden anrichtete. Unter der Wucht des Aufpralls zerbrach Viktors Kieferknochen wie ein dünner Ast unter dem Gewicht eines Riesen. Sein Gebiss verwandelte sich in ein blutiges Scherbengeflecht. Benommen von unbeschreiblichem Schmerz drückte Viktor ab. Weißer Schneestaub wirbelte neben Maria in die Höhe. Etwas Heißes verfehlte sie nur um Haaresbreite. Die dritte Kugel nahm den gleichen Weg wie der Schütze. Mit ganzer Wucht prallte Viktor gegen die hölzerne Fassade der Hütte und ließ sie erzittern, während blutiger Speichel über sein Kinn lief. Holzsplitter zerrissen schrapnellartig die Luft und bohrten sich tief in Marias rechte Wange. Nach Luft ringend, kippte sie zur Seite. Die Axt entglitt ihrem Griff, versank wieder in der Schneedecke.

Viktors Waffe war das gleiche Schicksal beschieden. So lautlos wie sie sich den Fingern ihres Besitzers entzog, wurde sie auch von den Eiskristallen empfangen. Gleichzeitig rutschte Viktors Körper an dem Bretterverschlag hinab wie die Überreste eines Insektes an der Wagenscheibe. Er wirkte jetzt nicht mehr wie der rasende Irre, der er schon immer gewesen war. Vielmehr wie ein zu Tode erschrockenes Kind - ganz wie der Junge, der zitternd und mit zusammengepressten Augen im Innern der Hütte auf dem Boden kauerte und stumm zu welchem Gott auch immer betete. Noch nie hatten Vater und Sohn derlei Gemeinsamkeiten besessen - und würden es vielleicht auch niemals mehr.

Unweit von Viktor bäumte sich Maria auf. Ihr Rücken, ihre Arme erschufen während ihres bizarren Veitstanzes groteske Schneeengel. Rote Schlieren verteilten sich in ihrem Gesicht, hervorgerufen durch die Splitter, die sich tief ins Fleisch gegraben hatten.

Beiläufig bemerkte sie Viktors Bewegungen; projizierten ihre grauen Zellen ein gewaltiges, grell leuchtendes Ausrufezeichen auf die Leinwand ihres inneren Auges.

Die Axt lag direkt neben ihr. Zum Greifen nahe.

Sie könnte es schaffen.

Dachte sie. Bis sie Viktors tiefes, gehässiges Lachen vernahm - und den Lauf der auf ihren Unterleib gerichteten Halbautomatischen sah.

WUU-UUUSCH!

Es passierte schnell. Zu schnell.

Alles, was Maria registrierte, war ein Schatten, der sich über alles legte. Etwas Schlangenähnliches, das nach unten raste und Viktors Oberkörper in einem dunklen Schlund verschlang. Dann war es auch schon vorbei.

Klatschend landete etwas vor ihr im Schnee. Ein blutiges, dampfendes Bündel.

Ein Schuss löste sich, verfehlte sie aber.

Ungläubig starrte Maria auf Viktors Arm, auf die Hand, auf die Finger … auf die Waffe. Der abgetrennte Körperteil zuckte noch immer schwach. Als weigere er sich, auch den letzten Funken Leben herzugeben.

Atemlos robbte Maria zu dem Arm hinüber und entwand den Fingern die Waffe. Ganz in der Nähe - oder doch weiter weg? - erschall etwas, das nur noch entfernt an einen menschlichen Schrei erinnerte.

Mit klopfendem Herzen sprang sie auf. Packte sich die Axt. Stieß die Hüttentür auf.

Das erste, was sie erblickte, war der tote Jäger, der sie beinahe anklagend ansah.

Dann, ganz in der Nähe, ganz schwach - eine vertraute Stimme; nichts klang schöner: „Mami.“

 

Ragnarök, fiel es Maria irgendwann später ein, nachdem sie die Tür aufgestoßen hatte. Die ganze Welt war unter einer weißen Decke verschwunden. Nichts rührte sich. Stille hatte sich ausgebreitet. Der Anblick schmerzte in den Augen, besaß aber zugleich etwas unsagbar Friedliches - trotz des noch immer blutroten Zwielichts über ihr.

Möglicherweise hatte Astrid vorhin Recht gehabt. Vielleicht war dies das Ende der Welt. Vielleicht trugen die Götter und Riesen wirklich ihr allerletztes Gefecht aus. Und vielleicht war das schlangenähnliche Ding, das sich Viktor geholt hatte, in der Tat die legendäre Midgardschlange gewesen - oder eines ihrer hungrigen Bälger.

Vielleicht.

Sie kehrte wieder in die Hütte zurück. In dem kleinen Ofen brannte ein Feuer und verbreitete heimelige Wärme. Der Tote war mit einer alten Steppdecke verhüllt worden.

Plötzlich musste sie an ihre Eltern denken. Wie es ihnen wohl ergangen war; was ihnen wohl zugestoßen sein mochte?

Es geht ihnen gut. Sie gaukelte sich nichts vor; wusste es einfach.

Sie trat neben ihren Sohn. Er stand neben der Tür und blickte nach draußen.

Malte.

Als er sie bemerkte, fiel er ihr um den Hals. Schloss die Augen.

Sie tat es ihm gleich.

Vielleicht ist es auch etwas ganz anderes, dachte sie, erfüllt von zwei wunderschönen Gefühlen: Liebe und … Hoffnung.

 

Nach oben

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240328200332d316c685
Platzhalter

Homepage des Autors

Torsten Scheib

Disclaimer

Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

Freigabe zur Weiterveröffentlichung besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 14.06.2010, zuletzt aktualisiert: 26.07.2019 10:10, 10588