Besessen (Autor: Torsten Scheib)
 
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Besessen

Autor: Torsten Scheib

 

Heute Abend wird meine Schwester sterben.

Sie ist elf Jahre alt und liebt Porzellanpuppen. Ihr ganzer Stolz ist ein silbernes Fahrrad. Außerdem mag sie Pferdebücher und Hackbraten mit Kartoffelbrei. Sie ist ein ganz normales, liebenswertes Mädchen.

Trotzdem muss sie sterben.

Meine Eltern behaupten, dass sie in einem Moment der Schwäche von dem Dämon heimgesucht wurde. Er soll es gewesen sein, der sie dazu verleitet hat, diese unsäglichen Zeitschriften zu kaufen, in denen farbenfroh die Sünden angepriesen werden. Der Dämon trägt die Schuld daran, dass sie ihre kindlichen Züge hinter einer Fassade aus Schminke verschwinden ließ und wie eine minderjährige Prostituierte aussah. Dank ihm wurde aus dem aufgeweckten, hilfsbereiten Kind ein zorniges, launenhaftes Balg.

Und es gibt nur einen Weg, den Dämon aus ihrem Körper zu vertreiben. Behauptet zumindest unser Oberster Priester und Spiritueller Geleiter, Bruder Markus.

Dennoch will – kann – ich es nicht wahrhaben. Es muss einfach einen anderen Weg geben; einen, der nicht den Tod beinhaltet.

Die Verzweiflung zerrt an mir wie ein tonnenschweres Gewicht. Meine Augen brennen. Ich liege auf dem Bett und starre die Decke an. Die Zeit zerrinnt wie feiner Sand. Erneut muss ich an gestern denken. An meinen Besuch bei Bruder Markus.

 

Er wohnt mitten im Wald, ein gutes Stück von unserer Gemeinde – der freien Zone – entfernt. Er war gerade dabei, ein paar Mädchen zu verabschieden, als ich seine Hütte erreichte. Astrid und Charlotte. Ich kenne die beiden. Sie sind in meinem Alter, wir sind in derselben Klasse. Sie grüßten mich nicht; hatten nicht mal ein Lächeln übrig, wie sie es mir sonst in den Pausen oder auf dem Nachhauseweg zuwerfen. Sie gingen einfach. Ich erkundigte mich bei Bruder Markus nach dem Grund ihres Besuches. Er lächelte nur milde und umschlang die goldene Kette mit dem goldenen Kegel. Als er mir seine Hand an die Wange gelegt hatte, war sie feucht gewesen.

„Diese beiden unschuldigen Seelen hatten sich verirrt“, erklärte er mir. „Auf dem Weg zur spirituellen Reinheit und Erleuchtung waren sie der Dunkelheit anheim gefallen und auf dem Pfad zur Verdammnis gelandet. Doch dank des glühenden Speers der Leidenschaft und meiner Liebe zu allen Wesen, die auf die Worte des Einen hören wollen, ist es mir gelungen, sie der Dunkelheit zu entreißen.“

Ich fragte ihn, warum man Melanie nicht auch der Dunkelheit entreißen könne. Bei Astrid und Charlotte hatte es ja funktioniert. Warum musste man sie an ihr Bett fesseln; ohne Wasser, ohne Nahrung und in ihrem eigenen Schweiß und ihren Ausscheidungen liegend? Warum sollte meine kleine Schwester sterben?

Mit einem Mal wurde Bruder Markus ganz ernst; seine Schultern erschlafften und der Kopf sank nach vorne. Statt meine Wange zu streicheln wanderte seine Hand zärtlich über meinen rechten Arm.

„Bei ihr kommt leider jede Hilfe zu spät“, antwortete er. „Der Dämon hat sich ihrer bemächtigt und wird sie vollständig verschlingen, wenn das Heilige Ritual nicht vollzogen wird. Dann wird er über das Antlitz dieser Welt wandern und Leid und Ingrimm unter den Menschen säen.“

Seufzend hob er seinen Kopf und blickte mir tief in die Augen: „Du kannst mir glauben, ich habe alles versucht. Es gibt keine Fürbitte, die ich nicht gesprochen, keinen Ritus, den ich nicht vollzogen habe. Den wir vollzogen haben. Dein Vater und ich. Doch der Dämon ist listig und stark. Er hat unsere Speere abgeschmettert, als wären sie lästige Insekten. Selbst im Heiligen Haus, unter dem Antlitz des Erlösers, des Heiligen Jajael, habe ich für die Seele deiner Schwester gebetet und um Hilfe gefleht … und einsehen müssen, dass die einzige Erlösung im Tode besteht.“

Während er sprach, wanderte seine feuchte Hand den Arm hinauf … am Hals entlang … berührten seine Finger meine Lippen; schmeckte ich eine sonderbare Mischung aus salzigem Schweiß und etwas Bitterem, wie Sellerie … ehe sie wieder auf meiner Wange verharrte.

„Doch trauere nicht, mein Sohn. Ihr Tod wird nicht ihr Ende sein. Die Kraft des Blutmondes wird sie in das Eine Reich geleiten, hin zum Erlöser und zur Weisheit.“

Die Worte hätten mir Trost spenden und alles leichter machen sollen. Doch das taten sie nicht. Sie ließen jeden Moment zu einem Alptraum werden. Nicht einmal im Schlaf fand ich Befreiung. Stattdessen lag ich wach und musste mir anhören, wie Melanie gegen ihre Fesseln ankämpfte und Geräusche von sich gab, die an ein wildes und ausgehungertes Tier erinnerten.

 

Gestern Nacht ging ich dann zu ihr rüber. Ganz leise und auf Zehenspitzen. Melanies Zimmertür war nicht abgeschlossen, also öffnete ich sie langsam und vorsichtig.

Ich würgte, nachdem ich den Gestank wahrgenommen hatte. Er war unbeschreiblich. Taumelnd und schwindelig und mit angehaltenem Atem fasste ich mir schließlich ein Herz und huschte durch den kleinen Spalt ins Innere. Das einzige Licht stammte von den unstet flackernden Flammen mehrerer Kerzen. Sie zauberten Schattengebilde auf Wände und Decke, die lebendig zu sein schienen. Obwohl es in Melanies Zimmer heiß und stickig war, fror ich. Immer näher schlich ich heran, bis ich deutlich das völlig verdreckte Laken und die schweren, blutverschmierten Fesseln erkennen konnte, mit denen meine Schwester an ihr Bettgestell gebunden war. Fliegen und Motten surrten und schwirrten vor meinem Gesicht und über Melanies besudeltem, ausgemergeltem Körper. Heiße Tränen schossen mir umgehend in die Augen. Von dem kleinen Mädchen war nicht mehr viel übrig geblieben. Sie war zu einem Ding geworden; einem lebenden Leichnam. Ihre Haut war fleckig, ihr Körper abgemagert. Dunkle Ringe lagen unter den eingefallenen Augen. Das einstmals samtweiche Haar war strähnig und verklebt. Auf ihren rissigen Lippen krabbelten Fliegen umher, auf der Suche nach Nahrung und Brutplätzen. Der Atem ging langsam und rasselnd. Überdeutlich konnte ich Melanies Blick spüren, der an mir haftete wie eine blutgierige Zecke. Neben ihrem Bett sank ich auf die Knie und wollte etwas sagen; wollte mit meiner kleinen Schwester sprechen – doch mein Hals war wie verödet.

Dann fielen mir die Fesseln ein. Ich zerrte und riss und zog an ihnen, doch die rauen Stränge waren einfach zu gut verknotet. Verzweifelt wandte ich mich wieder Melanie zu, und im gleichen Moment teilten sich ihre Lippen, drangen gehauchte und kaum hörbare Wörter an meine Ohren.

„ … dich …“ Selbst ihre Stimme hatte sich vollständig gewandelt. Es war die einer alten, verbitterten Vettel und hatte nichts mehr mit dem melodischen, fröhlichen Organ meiner kleinen Schwester gemein. Ich legte den Kopf zur Seite, beugte mich vor.

„ … dich dafür …“

Zu meiner Überraschung schien Melanie mit jedem weiteren Wort neue Kraft zu schöpfen; wurde ihre Stimme von Mal zu Mal kräftiger, bis sie lautstark durch das Zimmer brandete:

„ … hasse … dich … dafür! Ich … hasse … dich … dafür!“

Und dann spie sie mir ins Gesicht. Begleitet von meinem eigenen Aufschrei floh ich, während sie weiterhin die gleichen Worte von sich stieß.

Als schließlich der Morgen anbrach, brannte mein Gesicht von den Spuren der getrockneten Tränen. Falls meine Eltern etwas ahnten, so ließen sie es sich zu keinem Zeitpunkt anmerken.

 

Ich drehe den Kopf zum Fenster. Draußen ist es dunkel geworden. Die einzigen Lichter stammen von den Nachbarhäusern. Ich stelle mir die anderen Glaubensbrüder und

-schwestern vor, die in diesem Augenblick fröhlich um den Esstisch herum sitzen, andächtig zum Erlöser beten oder Loblieder zu Seinen Ehren singen.

Über der Dunkelheit thront ein roter Mond.

Der Dämon … schießt es mir durch den Kopf. Alle sprechen von einem Dämon, der von Melanie Besitz ergriffen hat. Bruder Markus, meine Schullehrer und sogar meine Eltern. Alle verweisen sie auf die Schriften des Erlösers, doch findet man darin weder eine eindeutige Beschreibung noch einen vagen Hinweis.

Der Dämon, der Dämon … Und wenn es gar keinen Dämon gibt? Wenn Melanie nicht besessen ist, sondern … krank?

Auch wenn ich ganz genau weiß, dass es mir und allen anderen Brüdern und Schwestern entsagt ist, die freie Zone zu verlassen, so habe ich dennoch die städtische Bücherei des nächstgelegenen Ortes besucht. Markus beschwört uns immer und immer wieder, auf gar keinen Fall mit den Pamphleten der Normalsterblichen in Kontakt zu kommen. Oder deren anderen Kommunikationsmitteln. Radio, Fernsehen, das Internet – alles tabu. Die meisten Bücher, Magazine und Zeitungen sowieso. Außer wenn sie von Gleichgesinnten geschrieben sind. Dennoch besuchte ich in meiner ganzen Verzweiflung jene Bücherei, und auch wenn es mir anfangs schwer fiel, mich dort zurechtzufinden, so wurde ich trotzdem rasch fündig. Es ist unglaublich, wie viele Werke über psychische Störungen verfasst wurden. Je tiefer ich vorstieß, desto beängstigender wurde es. Symptome, Abwehrmechanismen, Traumata, Affekte, Psychosen … mir brummte der Schädel, als ich mich auf den Rückweg machte. Wieder daheim, durchforstete ich das Buch des Erlösers nach Hinweisen und Vergleichsmöglichkeiten – und wurde zu meiner Überraschung fündig. Der Erlöser spricht nicht von Dämonen, dafür aber von geistiger Schwäche. Von der Unreinheit derer, die nicht seinem Worte folgen. Oder anders ausgedrückt: Es gibt nur die Gläubigen und Ungläubigen – und Letztere werden der Versuchung anheim fallen. Psychische Erkrankungen sind nichts weiter als Erfindungen.

Melanie hat ihr ganzes Leben damit verbracht, sich nach dem Erlöser zu richten. Sie verpasste keine Zeremonie und keinen Gottesdienst. Selbst damals, als sie die schwere Grippe und zugleich gefroren und geschwitzt hatte, bestand sie darauf, Bruder Markus Worten lauschen zu dürfen. Ihr ganzes Dasein war auf dem Fundament des Erlösers aufgebaut. Und jetzt soll Melanie ein geistig schwaches Wesen sein? Unrein? Anfällig gegenüber Dämonen wie ein normalsterbliches Kind?

Das alles macht keinen Sinn.

Auf meinem Nachttisch liegt das Buch der Erlösung. Die Seiten besitzen einen Goldrand. Der Einband ist aus schwarzem Leder. Eine zweite Ausgabe befindet sich auf der Kommode. Eine dritte im Badezimmer. An jeder Wand hängen gerahmte Bilder, welche bedeutende Punkte im Leben des Heiligen Jajael reflektieren. Ich fange an, die Worte und Bilder in Zweifel zu ziehen. Mehr noch – ich verachte sie. Ich verabscheue das, was sie sind und denjenigen, den sie repräsentieren. Am liebsten würde ich alles anstecken und zu Asche verwandeln.

Jemand klopft an meine Tür. Meine Mutter lugt durch den Türspalt in mein Zimmer. Ein gütiges und gleichzeitig mitfühlendes Lächeln liegt auf ihren Lippen. „Es ist so weit“, verkündet sie leise und mit monotoner Stimme. „Bitte mach dich fertig und komm ins Esszimmer.“

Bevor ich zu einer Erwiderung ansetzen oder zumindest nicken kann, wird die Tür

geschlossen. Ich bin wieder alleine – mit meinen Gedanken, meinen Zweifeln, meinem Hass. Mein Magen verkrampft sich. Hinter meiner Stirn pocht es. Die Unschlüssigkeit zerreißt mich; sie nagt an meiner Seele. Und wenn ich mich einfach weigere? Wenn ich mich dagegen entscheide, an dem Ritual teilzunehmen? Bruder Markus hat uns erklärt, dass es nur im Kreise der ganzen Familie vollführt werden kann. Entschließe ich mich dagegen, würde Melanie demnach vom Tode verschont werden. Aber wenn sie nun doch von einem Dämon besessen ist? Wenn ich es bin, der sich irrt?

Ich entschließe mich, vom Bett aufzustehen. Meine Beine fühlen sich schwer und ungelenk an. Als würden sie nicht mehr Teil meines Körpers sein. Ich öffne die oberste Schublade der Kommode. Ziehe die weiße Robe heraus. Betrachte sie. Eingehend. Ich lege sie beiseite. Blicke in den Spiegel. Schwindel erfasst mich. Kalter Schweiß tritt auf meine Stirn. Mein Spiegelbild wird undeutlich; verwandelt sich in eine schemenhafte, verzerrte Andeutung. Die Krämpfe in meinen Eingeweiden verschlimmern sich. Ich stütze mich am Kommodenrand ab; nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen.

So schnell wie er aufgetaucht ist, verschwindet der Anfall wieder. Schweigsam ziehe ich mich aus und streife die Robe über. Das seidige Material fühlt sich kalt an auf meiner Haut. Ich lege mir die silberne Kette mit dem silbernen Zylinder an. Atme tief durch. Betrachte mich. Mein Spiegelbild ist wieder völlig normal. Kein Schemen mehr. Mit dem Handrücken wische ich mir die Tränen weg. Dann verlasse ich mein Zimmer.

 

Der Tod scheint über unseren Köpfen zu schweben wie eine dunkle Wolke. Er legt sich auf unsere Gemüter als zentnerschweres Blei. Sogar während wir unsere Häupter senken, um dem Erlöser für unser Mahl zu danken, spürt man die Präsenz wie einen weiteren Gast. Anders als meine Eltern und ich, trägt Bruder Markus eine rote Robe. Seine schimmernde, goldene Kette hebt sich durch die kräftige Farbe des Stoffes besonders deutlich hervor. Irgendwo darunter hat er den Heiligen Ritualdolch verborgen; durch ihn wird Melanie sterben.

Mutter trägt das Essen auf. Statt Worte tauschen wir unsere Wünsche mittels flüchtiger Blicke und knapper Gesten aus. Ich bezweifle, dass ich auch nur einen Bissen hinunterbringen kann. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und in meinen Eingeweiden rumpeln Backsteine umher.

Bruder Markus hat keine Probleme mit seinem Appetit. Mit großen Bissen schlingt er das Hähnchen, den Kartoffelbrei und das Gemüse hinunter, als habe er seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Zwischendurch gönnt er sich einen Schluck Wein, der im Licht den gleichen Farbton besitzt wie seine Robe. Scharlachfarbene Rinnsale laufen an seinem Kinn hinab, nachdem er das Glas abgesetzt hat. Aus dem Brotkorb zieht er ein dampfendes Brötchen und beißt grunzend in den warmen Teig. Ich beobachte ihn, während meine Gabel Furchen durch den Kartoffelbrei zieht. Binnen weniger Augenblicke ist sein Teller leer; ein Zustand, den er nicht zulassen kann.

Sein Zustand … gibt es im Buch des Erlösers nicht eine Passage, die Bruder Markus gegenwärtigen Zustand und das damit einher verbundene Verlangen beschreibt?

Natürlich: Völlerei …

Mit einem Male lodert ein Feuer in mir, angeschürt vom Hass auf diesen Mann. Der vorgibt, in unserer schlimmsten Stunde bei uns zu sein und Melanies bevorstehenden Tod ebenso zu bedauern wie wir.

Er – der Oberste Priester, der Spirituelle Geleiter unserer Gemeinde. Bruder Markus. Das Sprachorgan von Jajael, dem Erlöser.

Das Gefühl, von dem ich nun erfasst werde, lässt sich nur sehr schwer in Worte fassen. Es kommt mir vor, als habe man mir einen Bottich mit dampfend-heißem Wasser übergeschüttet – gefolgt von einem mit Eiswasser. Ich bebe. Meine Lippen sind geschürzt, meine Zähne so sehr zusammengepresst, dass es weh tut. Ich blicke zu meiner Mutter hinüber, die beinahe ängstlich ihr Mahl zu sich nimmt. Kein einziges Mal blickt sie auf. Sie wirkt wie ein eingeschüchtertes Tier. Mein Vater hingegen scheint mit einem ähnlichen Appetit gesegnet zu sein wie Markus.

Markus … Markus … Markus … dieser Name, dieses eine Wort … es hallt durch meinen Kopf wie der laute Klang einer Kirchenglocke. Es lässt mich wahnsinnig werden; es verdrängt alles, krallt sich in mein Fleisch wie ein pumpender, gieriger, alles verschlingernder Tumor –

Die Gabel entgleitet meinen Fingern. Klimpernd landet sie am Tellerrand.

„Nein!“, presse ich hervor. Speichelfäden begleiten dieses eine Wort, das so schmerzt, als ob mir Glasscherben über die Lippen kommen.

Alle starren mich an. Meine Eltern, Bruder Markus. Meine Mutter stöhnt auf, beide Hände gegen den Mund gepresst. Tiefe Falten liegen auf der Stirn meines Vaters und in seinen Augen funkelt etwas, das nichts Gutes verspricht. Sein Körper bebt, als stünde er unter Druck und würde jeden Moment explodieren, falls er nicht verringert wird. „Schweig … still!“, presst er schließlich hervor; die Augen zusammengekniffen und das Besteck so fest umschlungen, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Der einzige, der scheinbar nichts hinzuzufügen hat, ist Bruder Markus. Und sein Schweigen ist schlimmer als jede ausgesprochene Drohung oder Ermahnung.

„Nein!“, kontere ich. „Ich werde nicht schweigen!“ Ich strecke die Hand aus, deute auf

Markus. „Seht ihr es denn nicht? Wie er euch manipuliert? Uns alle? Immerzu spricht er von Dämonen, will uns glauben machen, dass Melanie besessen ist – doch von wem? Oder was? Das weiß niemand. Weder Markus noch das Buch des Erlösers! Und wenn Melanie nicht besessen ist, sondern krank? Wenn sie unter einer Psychose leidet? Wenn man sie heilen kann?“

„Kein Wort mehr“, murmelt mein Vater halblaut und mit gesenktem Kopf. Seine Augen starren zu mir herüber. Noch immer bebt er am ganzen Leib. Wenn er einatmet, plustern sich bei jedem Zug seine Wangen auf. Am anderen Ende des Tisches hat sich meine Mutter in ein heulendes, wimmerndes, beschämtes Wrack verwandelt.

Ich ignoriere den Befehl. Lange genug habe ich einfach nur dagesessen; bin der Masse gefolgt. „Das werde ich nicht! Und ich werde es nicht zulassen, dass Melanie sterben muss! Nicht durch eure, nicht durch meine und nicht durch die Hand eines Scharlatans!“

Endlich ist es raus. Das tonnenschwere Gewicht, das mich in den vergangenen Tagen so sehr belastet und meinen Verstand blockiert hat, ist von mir gefallen. Was folgt, ist Schweigen – unheilvoll und bedrohlich.

Und dann, ohne jegliche Vorwarnung, springt Bruder Markus in die Höhe. Sein Gesicht ist verzerrt, wirkt bizarr. Seine Augen treten aus den Höhlen hervor und auf seiner Stirn pulsiert eine Vene. Jetzt ist es sein Arm, der nach vorne schnellt und auf mich zeigt. Seine Stimme ist schrill und überschlägt sich:

„Oh-Heiland-die-Dämonen-sind-in-den-Jungen-gefahren-die-Dämonen-haben-sich-seiner-bemächtigt-er-muss-getötet-werden-GETÖTET-GETÖTET-GETÖTET!“

Synchron erheben sich meine Eltern vom Tisch. Der Hass in den Augen meines Vaters glüht nun um ein Vielfaches stärker als zuvor. Den gleichen Ausdruck entdecke ich in den Augen meiner Mutter. Ihre Beschämtheit ist wie fortgewischt und hat Platz gemacht für etwas Wildes und Animalisches. Geduckt und mit ihren Messern bewaffnet, kommen sie näher. Rasch schnappe auch ich mein Messer und weiche zurück; abwechselnd meine Mutter und meinen Vater fixierend. Hinter ihnen hat Bruder Markus beide Hände ausgestreckt, als wolle er jemanden umarmen, den nur er sehen kann. Ein selbstsicheres Lächeln umspielt seine Lippen. Stets wiederholt er die gleichen Worte: „Tötet ihn … tötet ihn …tötet ihn!“

Etwas Hartes trifft mich im Rücken. Meine freie Hand ertastet den Knauf des Treppengeländers. Einen Fuß setze ich langsam nach hinten, auf die erste Stufe. Es muss schnell gehen. Unzählige Gedanken wirbeln in meinem Verstand umher wie Gewitterwolken. Könnte ich meine Eltern töten, wenn es keinen anderen Ausweg mehr geben würde? Bei Bruder Markus plagen mich derlei Zweifel nicht, und meine Eltern scheinen auch keinerlei Skrupel zu empfinden, ihren einzigen Sohn im Namen des Erlösers zu töten, doch umgekehrt …

Es fällt mir schwer, derlei Überlegungen einfach beiseite zu schieben. Dennoch gelingt es mir. Stattdessen konzentriere ich mich auf den nächsten Schritt. Ich täusche einen Angriff vor, der meine Eltern automatisch in die Defensive drängt. Das Überraschungsmoment nutzend, wirble ich herum und haste die Stufen empor; nehme immer zwei auf einmal. Ich höre Markus kreischende Stimme, höre das zornige Grollen meines Vaters und den spitzen Aufschrei meiner Mutter. Etwas Schweres fällt zu Boden. Mein Vater? Meine Mutter? Es spielt keine Rolle. Ich darf nicht zurückblicken. Muss weiter, immer weiter. Hin zum Zimmer meiner Schwester –

Eine Hand greift nach dem Kragen meiner Robe und zerrt mich nach hinten. Ich spüre den heißen Atem meiner Mutter im Nacken, begleitet von ihren ohrenbetäubenden Schreien. Irgendwie entwinde ich mich ihrem überraschend starken Griff, dabei gleichzeitig meinen angewinkelten Arm nach hinten stoßend –

Paff!

- und registriere zufrieden, wie etwas nachgibt; begleitet von einem hässlichen Knacken, als würde man einen Ast in der Mitte teilen …

Der Gang windet und dreht sich. Ich kämpfe mit dem Gleichgewicht. Taumelnd passiere ich die Tür zu meinem eigenen Zimmer. In meinem Nacken kitzelt es. Dumpfe, schnelle Schritte ertönen. Nicht zurückblicken. Keineswegs innehalten. Gleich ist es geschafft, nur noch ein paar Meter; es ist nicht mehr weit …

Mit beiden Händen umfasse ich den Türgriff und zerre daran. Verschlossen. Warum? WARUM?

Spielt keine Rolle. Ich trete die Tür einfach ein. Der Rahmen splittert. Im flackernden Kerzenschein schließe ich sie wieder und schnappe mir den Stuhl gleich daneben. Die Lehne klemme ich unter den Knauf. Auf der anderen Seite wird geflucht, gezetert und geschrien. Der Knauf ruckelt und wackelt unter dem Einfluss von wem auch immer. Das Türblatt vibriert, hält aber dem Angriff ebenso stand wie der Stuhl. Gut.

Atemlos hetze ich zu meiner Schwester hinüber; zu dem Ding, der Hülle, der Kreatur, die bis vor kurzem noch ein liebenswürdiges, intelligentes Kind war. Schwindel erfasst mich von neuem. Das Zimmer, die Möbel, die flackernden Kerzen – alles verzerrt und dehnt sich. Ich höre Stimmen. Sie raunen, sie flüstern. Was sagen sie? Ich kann sie nicht verstehen. Sind es die Stimmen von Bruder Markus und meinen Eltern? Mein Nacken fängt zu prickeln an. Als stünde jemand – oder etwas – direkt hinter mir. Ich wirble herum. Nichts. Da ist niemand. Es gibt nur mich – und meine kleine Schwester. Und dennoch …

Melanie liegt still da. Rührt sich nicht. Ihr Atem entweicht noch immer rasselnd und so unendlich langsam. Ihre Augen wandern schleppend nach oben. Ich spüre sie auf mir liegen

wie die haarigen Beine einer besonders großen Spinne. Schließlich treffen sich unsere Blicke.

Die Stimmen werden lauter. Ich stöhne auf, schließe die Augen. Presse die Handflächen gegen mein Gesicht. Werfe den Kopf umher. Das Stimmgewirr schwillt weiter an, und mit ihm dieser unbeschreibliche, alles verzehrende Schmerz; ein grelles Fanal, der jede Sekunde meinen Schädel zum Bersten bringen wird …

Dann ist es vorbei. Die Stimmen, der Schmerz – sie sind verschwunden. Doch etwas anderes hat ihren Platz eingenommen.

Und während Melanies Augen ob der Erkenntnis immer größer werden, verwandeln sich meine in Schlitze. Sie kann es sehen … sie weiß es … sie … sie … muss … muss …

Ich lächle. Presse eine Hand auf ihren Mund. Melanies Körper fängt erneut an, sich zu sträuben und zu wehren. Langsam setze ich das Messer an ihre Kehle. Verstärke den Druck. Die Haut gibt nach. Eine rote Träne quillt aus dem winzigen Schlitz hervor, rinnt an ihrem Hals hinab; streift die emsig pulsierende Schlagader. Die Öffnung verwandelt sich in einen klaffenden, gähnenden Schlund. Fast scheint es, als besäße Melanie nicht einen, sondern gleich zwei Münder. Die Klinge zerteilt das Gewebe mühelos. Noch mehr Blut; viel mehr Blut. Dann ist es vorbei. Der Körper des kleinen Mädchens erschlafft. Für immer. Achtlos werfe ich das Messer beiseite und betrachte zufrieden mein Werk.

 

Kurz darauf gelingt es meinen Eltern und Bruder Markus, die Tür einzutreten. Sie stürmen ins Zimmer, wollen mich vom Bett wegzerren, mir Vernunft einbläuen, doch als sie Melanies blutüberströmten Leichnam bemerken, halten sie inne. Meine Mutter bricht heulend zusammen. Mein Vater kniet sich neben sie, nimmt sie in die Arme und flüstert ihr Worte des Trostes zu. Immer wieder blickt er zu mir und dem toten Kind hinüber. Markus auch. Seine Lippen bewegen sich, er sucht nach Worten, findet aber keine.

Ich hingegen schon. Ich mache es meinem Vater gleich – nur dass ich beide Elternteile umarme. Es gelingt mir sogar, ein paar Tränen fließen zu lassen und erstickte Worte auszuspucken, die einerseits den Verlust meiner geliebten Schwester bedauern und andererseits meine eigene Dummheit anprangern. Verständnisvoll nicken meine Erzeuger synchron, bevor sie sich wieder von den Fluten ihrer Trauer mitreißen lassen.

Ich stehe auf. Wende mich an Bruder Markus. Noch immer ist er wie vor den Kopf

gestoßen. Sein Blick starrt ins Nichts. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. „Es ist vollbracht“, verkünde ich grabesernst und mit gesenktem Haupt. „Der böse Geist ist entwichen und in die Schlünde des Verderbens zurückgekehrt. Er wollte sich auch meiner bemächtigen, doch war mein Glaube stärker als sein Übel.“

Langsam hebe ich den Kopf, blicke Bruder Markus tief in die Augen. Er scheint noch immer in einer anderen Welt zu verweilen, die nur er sehen und betreten kann. Meine Hand umfasst seine Wange; zärtlich, beinahe liebkosend. Schließlich gehe ich an ihm vorbei und verlasse den Raum.

Draußen im Flur bleibe ich stehen und wende mich dem dort aufgestellten Spiegel zu. Für einen winzigen Augenblick starre ich in die Fratze einer Monstrosität; einer Schimäre aus den finstersten Untiefen. Eigentlich müsste ich entsetzt sein oder zumindest überrascht – doch ich bin nichts davon.

Der Dämon war nicht in Melanie. Sondern in mir.

Die ganze Zeit schon. Und ich habe es nicht bemerkt. Vielleicht ist er auch erst durch die ganzen Vorgänge hier erwacht oder hat sich in mir eingenistet, als ich Melanie heimlich einen Besuch abgestattet habe. Doch welche Rolle spielt das schon? Das einzig Wichtige ist dieses großartige Gefühl von Macht, das durch meine Adern strömt und Teil meiner Gedanken und Überlegungen ist. Vor meinem inneren Auge breitet sich die Zukunft aus. Die Zeit der wahren, der richtigen Erlösung ist angebrochen. Und ich werde ihr Verkünder sein.

 

Die Geschichte ist in der Anthologie Der wahre Schatz enthalten.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240329141748bb48d230
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Erstellt: 31.12.2009, zuletzt aktualisiert: 26.07.2019 10:10, 9812